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Mord im Albulatal

Die eigensinnige Wirtin der «Bellaluna» starb vor 35 Jahren. Über das Leben und den Tod von Paula Roth – im Gespräch mit drei Männern, die sie kannten.

Bündner Woche
22.02.23 - 11:00 Uhr
Leben & Freizeit

Von Karin Hobi

Es ist der 18. April 1988. Drei Männer sind mit dem Auto im Albulatal – zwischen Filisur und Bergün – unterwegs. Auf der Höhe des Wirtshauses «Bellaluna» biegen sie von der Hauptstrasse ab. Dort, wo ein Schild platziert ist mit der Aufschrift «Touristen, wo kehren wir ein? Im Gasthaus Bellaluna da ist gut sein.» An jenem Tag soll es aber alles andere als «gut» sein. In ihrem Wagen führen die Männer Messer, einen Meissel, ein Seil und eine Taschenlampe mit sich. Der 39-jährige Fahrer, der sich mit seiner Metallbaufirma am Rande des Konkurses befindet, lässt seine beiden Kollegen in der Nähe des Wirtshauses aussteigen und fährt nach Bergün, um ein Bier zu trinken. Die anderen beiden begeben sich zum Haus. Ein 23-Jähriger und ein 37-Jähriger – der in Deutschland bereits mehrfach vorbestraft ist, unter anderem wegen Todschlags an seiner Freundin. Der Jüngere der beiden steht Wache im Garten von Paula Roth, während der andere ihr in das Haus folgt.

2400 Schweizer Franken und ein Messer voll Blut

Paula Roth ist, wie so oft, alleine zu Hause. Eine Weile später verlässt der Mann das Haus. Mit 2400 Schweizer Franken in Kleingeld und einem blutverschmierten Messer. Mit elf Messerstichen wurde die 70 Jahre alte Wirtin brutal ermordet. In ihrem «Bellaluna», ihrem Wirtshaus und Daheim. Dort, woraus bis vor Kurzem die Töne ihres Harmoniums erklangen. Dort, wo sie all ihre Gäste bewirtete und ihre geliebten Tiere betreute. Paula Roth musste die Welt auf tragische Weise verlassen. Die Frau, deren Leben und Tod für so viel Gesprächsstoff sorgte. Auch heute noch, 35 Jahre nach ihrem Tod.

Vor dem Haus bleiben die drei Männer stehen und erinnern sich an die Stimmung damals. Tiere, Gäste und Paula Roth mittendrin. «Das Besondere war das Ambiente. Und Paula Roth hier als Wirtin die passende Person», finden sie. Jakob Battaglia hat besonders viele Erinnerungen an gemeinsame Zeiten mit der Wirtin. Denn schon als kleiner Junge arbeitete er bei ihr als Hausbursche. Er packte an, wo er konnte. Im Stall, bei den Tieren, er hat geheut und Holz gehackt. «Und in der Küche habe ich abgewaschen und pickelharte Dreiminuteneier für die Gäste gekocht», sagt er lachend und zeigt sein altes Fotoalbum. Bilder, die ihn als Jungen zeigen, wie er in der Küche von Paula Roth in einer Pfanne rührt. Und Bilder, auf denen er mit seinem Bruder, seinem Vater und Paula Roth zu sehen ist. Sie war für ihn wie jemand aus der Verwandtschaft. «Familie irgendwie.»

Tiere, Gäste und Paula Roth mittendrin

1962 ist Paula Roth damals in das Haus «Bellaluna» gezogen. Das Haus, das einst das Direktionsgebäude der Eisenschmelze war und 1835 gebaut wurde, nachdem das alte Gebäude bei einem Waldbrand abgebrannt war. Als Paula Roth das Haus kaufte, war es bereits acht Jahre unbewohnt und in prekärem Zustand. «Sie hat es auf ganz einfache Art renoviert», erzählt Jakob Battaglia. Ein Haus so abgelegen hat etwas Ruhiges und Idyllisches an sich. Gleichzeitig aber wirkt es auch ein bisschen verloren. Oder irgendwie «anders», auch mit der damaligen Deponie vor ihrem Haus, wo Paula Roth immer wieder nach wiederverwendbarem Material suchte. Selbst alte Akten aus dem Archiv des alten Filisurer Gemeindehauses hat sie gefunden und behalten. Diese mussten nach ihrem Tod quasi ein zweites Mal vernichtete werden. Neben «idyllisch» und «irgendwie anders» war die Lage des Wirthauses aber vor allem nicht immer ganz ungefährlich wegen Lawinen, Steinschlag- und Rüfengefahr. «Sie musste sogar einmal mitsamt allen Tieren für ein paar Tage evakuiert werden», erzählen die Männer. Dann zeigen sie auf einen grossen runden Felsen im Garten, worauf damals von Paula Roth Datum und Zeit, an dem der Felsen in ihrem Garten landete, mit weisser Schrift aufgemalt wurde.

 

Video Jürg Huber

Aber nicht nur solche Geschichten haben für Gesprächsstoff gesorgt. Paula Roth war eine besondere Frau. Ein «Unikat» oder eher ein «Original», würde man heute sagen. Sie war zwar viel inmitten ihrer Gäste. Aber auch oft alleine. Dafür war ihre Liebe für Tiere umso grösser. Selbst eine nur noch halb lebende Henne hegte und pflegt sie, bis sie wieder Eier gelegt hat. Und wenn sie nicht mit den Tieren oder dem Bewirten der Gäste beschäftigt war, erzählte sie gerne Geschichten. Auch gab sie öffentlich zu bekennen, dass sie Banken nicht traute. Dass sie ihr Geld in ihrem Haus aufbewahrte, war kein Geheimnis. Was ihr wohl zum Verhängnis wurde.

Paula Roth spielte auf ihrem Harmonium, malte Traumbilder und nahm ihre Lebensgeschichte auf Tonbänder auf. Auch das Wirtshaus führte sie so, wie sie es für richtig empfand. Ein Patent für Alkoholausschank? Für Paula Roth nicht notwendig. Sie löste es anders. «Als knapp zwölfjähriger Junge musste ich jeweils die Weine und Schnäpse verstecken, wenn wir hörten, wie ein Auto zum Haus fuhr», erzählt der damalige Hausbursche Jakob Battaglia. Und wenn der Gast jemand Bekanntes war, rief sie ihm «Buab!» zu und er durfte den Alkohol wieder zurücktragen. Dass sich bei ihr um 1964 für ein Jahr eine Sekte einmietete, die den Weltuntergang erwartete, war ebenfalls bekannt. Die Mitglieder kamen mitsamt all ihren Tieren und einer grossen Menge an Essensvorrat bei ihr an. Gemäss dieser Sekte war «Bellaluna» weltweit der einzige Ort, der nicht untergehen würde.

Sie kannten Paula Roth: Jakob Battaglia, Wolfgang Schutz und Hans Stäbler (von links nach rechts). Bild Riccarda Hartmann
Sie kannten Paula Roth: Jakob Battaglia, Wolfgang Schutz und Hans Stäbler (von links nach rechts). Bild Riccarda Hartmann
Der Blick ins Album: Paula Roth (links). Bild Riccarda Hartmann
Der Blick ins Album: Paula Roth (links). Bild Riccarda Hartmann

Bei Paula Roth gingen so manche Prominente sowie Politikerinnen und Politiker ein und aus. Viele von ihnen trugen sich in die Gästebücher ein. Paula Roth war überall bekannt. Und auch wenn nicht immer alles ganz den Hygienevorschriften entsprach und Paula Roth keinen Blick in die Küche duldete, kamen die Gäste trotzdem gerne wieder. Erst als es um die kantonalen Auflagen ging, haben Paula Roth einige Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner boykottiert. «Damals hat sie sich zurückgezogen und man hat sie in Filisur kaum mehr gesehen», erzählen die Männer. Das Gasthaus sei immer öfters geschlossen gewesen und Paula Roth bastelte mit alten Chianti-Flaschen und Pappe Köpfe, die sie an die Fenster stellte, um von aussen das Gefühl zu vermitteln, dass sie nicht alleine ist.

Ein Schock für das ganze Dorf

Und dann nahm ihr besonderes Leben ein brutales Ende. «Der Metzger ‘Gautschi’ hat Paula gefunden», erzählt Wolfgang Schutz. Als die Bestellung ausblieb, sei Gautschi zu ihr hingefahren, um nachzusehen, was los sei. Kurze Zeit später war der Platz vor dem Gemeindehaus in Filisur voller Polizeiautos. «Paula ist ermordet worden!» Die Worte verbreiteten sich wie ein Lauffeuer. Ein Schock für das ganze Dorf. «Ein Mord in einer so kleinen Gemeinde, das war unfassbar», erzählt Hans Stäbler, der Paula Roth am Tag zuvor noch gesehen hat. Er als Marathonläufer rannte nämlich regelmässig seine Einlaufstrecke von Filisur der Albula entlang zur «Bellaluna». Paula Roth stand auf der Bauschuttdeponie und suchte nach möglichem Gebrauchsmaterial. Er wechselte ein paar Worte mit ihr. Die letzten für immer. Einige Stunden später war sie tot. Die Frau, die anders war als die anderen. Die Frau, die ihre eigene Welt kreierte.

Und wieder im Jahr 2023. Der Hund rennt zur Brücke und die drei pensionierten Männer gehen hinterher. Weg von der «Bellaluna», zurück ins Jetzt. Auch wenn sie den Ort immer wieder gerne aufsuchen werden. Und nach all den Geschichten könnte man fast meinen, Paula Roth stehe an der Türe und rufe «auf Wiedersehen!», während sie lächelnd ihre Tiere streichelt. Selbst nach ihrem Tod ist sie irgendwie immer noch ein bisschen da.

Nach dem Mord
Die drei Täter wurden damals schnell gefasst und zu einer jahrelangen Haftstrafe verurteilt. Einer von ihnen nahm sich in der Gefängniszelle das Leben.

Am Begräbnis in Filisur erwiesen Paula Roth rund 200 Menschen die letzte Ehre. Bei der Räumung des Hauses kamen nicht nur die von der Mülldeponie entfernten Gemeindeakten zum Vorschein, sondern auch Strümpfe voller Münzen mit einem Gesamtgewicht von fast 50 Kilogramm. Der Kreisgerichtspräsident persönlich brachte die Münzen damals zur Kantonalbank.

Die «Bellaluna» konnte von den Erbinnen und Erben für einen beachtlichen Batzen verkauft werden. Paula Roth hinterliess aber nicht nur dieses Vermögen, sondern auch ein Leben, das unzählige Geschichten schrieb und über das noch heute gesprochen wird.

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Wir, die Mitarbeiter des Bergrestaurants Jatzmäder Rhinerhorn und der Bahn von Davos-Glaris haben schöne und unvergessliche Stunden bei Paula erlebt und selten so gelacht. Es war immer ein gelungener Abend. Unvergesslich auch, als sie eine Waschmaschine geschenkt bekam und wahrscheinlich ihre gesamte vorhandene Wäsche wusch und auf dem Vorplatz zum Trocken aufgehangen hatte.
Wir waren tief betroffen, als wir von ihrem Tod erfahren haben.
Möge der Petrus ebensoviel Spass mit ihr im Himmel haben.
Ruhe in Frieden liebe Paula
Walter Hug

Vielen Dank für den interessanten, mit Wohlwollen und Respekt verfassten Bericht. Schön, dass Paula und ihre Persönlichkeit nicht vergessen wird.

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