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Das uncoole Mädchen mit der Geige

Unsere Autorin denkt an die Zeit zurück, als sie sich für ihren Geigenkasten geschämt hat. Und schämt sich heute für so wenig Charakter.

14.12.22 - 16:30 Uhr
Gemeinsam: Ich brachte meinem Vater das Geigenspiel bei.
Gemeinsam: Ich brachte meinem Vater das Geigenspiel bei.
Gemeinsam: Ich brachte meinem Vater das Geigenspiel bei. / Bild Mara Schlumpf

«OK Boomer» versus «Wa hesch denn du scho erlebt du huere Banane?» Im Blog «Zillennials» beleuchten Vertreterinnen der Generation Z, Nicole Nett und Anna Nüesch, und die Millennials David Eichler und Jürg Abdias Huber in loser Folge aktuelle Themen. Im Idealfall sorgen die vier damit für mehr Verständnis zwischen den Generationen. Minimal hoffen sie, für etwas Unterhaltung, Denkanstösse und den einen oder anderen Lacher zu sorgen.

Ich war kein beliebtes Kind. Von aussen betrachtet war ich wohl sogar ein seltsames Kind. Ich hatte andere Interessen als meine Altersgenossen, hörte andere Musik und war mit 13 Jahren bereits 1,75 Meter gross, so gross, wie ich auch jetzt mit 29 bin. Mein erwachsenes Aussehen mit 13 liess mich schliesslich doch populär werden. Denn in der Gymizeit war es für mich ein leichtes, in einen Tankstellenshop zu spazieren und mir Alkohol und Zigaretten verkaufen zu lassen. Das kam ziemlich gut an bei meinen Altersgenossen. Dazu kommt, dass ich bereits früh gelernt habe, in Schuhen mit Plateau-Absätzen zu gehen. Wenn ich also davon spreche, ein schräges Kind gewesen zu sein, dann meine ich die Zeit davor. Als Jugendliche (und natürlich als Erwachsene) war ich ziemlich cool. ;)

Aber schauen wir zurück in die dritte Klasse. Seit ich denken kann, liebe ich klassische Musik. Während andere in meiner Strasse von Eminem und Tupac nicht genug kriegen konnten, lag in meinem Anti-Shock-CD-Player meist eine Rondo-Veneziano-CD. Oder igendwas mit Techno. Aber darum geht es hier nicht. Jedenfalls war schnell klar, dass ich eines Tages Geige spielen wollte. Und zwar mindestens so gut wie André Rieu. Für alle unter 30 hier: Das ist der David Garrett (zu dem ich später noch komme) der Neunziger. Und Rondo Veneziano ist das hier:

Ziemlich cool, finde ich. Jedenfalls war es dann 2002 endlich soweit – ich durfte Geigenstunden nehmen. Wir hatten damals nicht besonders viel Geld, weshalb ich meinem Vater, von dem ich meine Liebe zur klassischen Musik geerbt habe, wiederum erzählte, was ich in der Musikschule gelernt hatte. So ging ich also jeden Mittwoch mit meinem Geigenkasten in die Schule, anschliessend in den Geigenunterricht und daheim brachte ich meinem Vater das Geigenspielen bei. Eigentlich ziemlich schlau, nödwahr. Auch wenn ich den Bogen (man beachte das Wortspiel) relativ schnell raus hatte, in den ersten Jahren klingt alles, was jemand auf der Geige spielt, einfach furchtbar. An dieser Stelle erspare ich euch Ausschnitte aus den Geigenkonzerten, die ich damals (besonders in der Weihnachtszeit) ablieferte. Stattdessen ein Bild von mir mit meiner Geigenlehrerin, ganz ohne Gequietsche:

Klassiker: Ich spielte damals Yellow Submarine.
Klassiker: Ich spielte damals Yellow Submarine.
Bild Mara Schlumpf

Das Problem waren aber nicht die Geigenstunden. Das Problem waren die Stunden davor. Meine Klassenkameraden fanden es nämlich ganz schön schräg, dass ich so ein altmodisches Instrument spielen wollte. Und nicht etwa Querflöte, wie es sich für die Mädchen in diesem Hintlerwäldlerdorf, in dem wir damals lebten, halt gehörte. Ich und mein Geigenkasten mussten einige Tritte und Schläge einstecken in der Primarschule. Irgendwann als Teenie hatten sie es geschafft und ich selber fand es unglaublich uncool, in den Geigenunterricht zu gehen. Vielmehr wollte ich nach der Schule auch mit meinen Klassenkameraden abhängen und über Jungs und Musik quatschen. Ich bat meine Eltern, mit den Geigenstunden aufhören zu dürfen. Oder wenigstens mit einem Scooter zur Schule fahren zu dürfen, damit ich unterwegs nicht immer mittels Schubser samt Geigenkasten im Gestrüpp landen würde. 

So fand meine Geigenkarriere ein Ende. Und ich war nicht böse darüber, denn mit dem Üben stand ich seit Beginn auf Kriegsfuss. Es klang bei mir halt nie so wie bei André Rieu. Einige Jahre später, ich gehörte längst zu den coolsten Kids in der Oberstufe, stolperte ich über David Garrett. Oder viel mehr über seine Musik. Man konnte also cool sein UND Geige spielen? Welch eine Offenbarung. Ich sog alles auf, was von den Saiten des Musikers perlte. Und dass er nicht übel anzusehen ist, half bestimmt auch. Das weibliche Pendant zu Garrett fand ich in Lindsey Stirling. Ich glaube, eine ihrer ersten Abonnenten auf Youtube gewesen zu sein. Als sie noch in ihrer Tiefgarage filmte und die Videos dann handwerklich furchtbar (aus heutiger Sicht) zusammenschnitt. Mittlerweile hat sie Plattenverträge und tourt durch die Hallen dieser Welt. Auch sie – unglaublich cool. Hier ein Beispiel:

Manchmal, kurz vor dem Einschlafen, denke ich darüber nach, wie gut mein Geigenspiel wohl mittlerweile wäre, hätte ich damals nicht unbedingt «cool» sein wollen. Oder was, wenn es den anderen Kids einfach egal gewesen wäre, dass das blonde Mädchen mittwochs mit einem Geigenkasten auf dem Rücken durchs Dorf spazierte? Manchmal habe ich sogar die Vermutung, dass ich wohl das allercoolste Mädchen im ganzen Dorf war. Eines, dem es egal war, dass alle anderen Mädchen nach dem katholischen Gottesdienst (an dem ich als konfirmationslose und atheistische Höllenfrucht nie teilnehmen musste) in ihre Querflöten pusteten. Eines, das machen wollte, was es faszinieret. Eines, das zu den Serenaden von Bach durch die Wohnung tanzte, anstatt sich das neue Album der No Angels zu kaufen. Rückblickend finde ich mich ziemlich cool. Aber auch ziemlich dämlich, weil ich meine Geige gegen die Akzeptanz meiner Altersgenossinnen getauscht habe. 

Jedenfalls werde ich dem saucoolen inneren Kind von mir schon bald einen riesigen Wunsch erfüllen. In meinem Kalender ist ein Tag im Dezember nämlich rot und dick eingekreist. Es steht ein Interview mit David Garrett an. Und ich werde ihn bestimmt fragen, wie es sich anfühlt, vom uncoolen Kind zum Weltstar zu werden. Oder ob er in Tat und Wahrheit auch das coolste Kind im ganzen Dorf war. In diesem Sinne: Grüsse gehen raus an Lea, Laura, Larissa, Nicole, Tanja, Lukas und Lukas 2, die nun als Fitness-Influencer, Instagram-Model und Mindset-Coach arbeiten – ich bin immer noch viel cooler als ihr. 

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Vielen herzlichen Dank. Ich fand die Zeit auch cool mit dir Geige zu spielen. Und ist schon so, du bist heute noch mega COOL.
Liebevoller Gruss an meine Tochter.

prolitteris