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«Ich befürchtete nichts Gutes»

Er hat Kindern den Rollstuhl erspart, weil er eine Möglichkeit fand, ungeborene Babys in Mamas Bauch zu operieren. Für sein Lebenswerk wird Martin Meuli als «Bündner Persönlichkeit 2021» nominiert.

Kristina
Schmid
14.01.22 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Der Starchirurg ist im Ruhestand: Martin Meuli operierte mehr als 100 Kinder, noch bevor diese zur Welt kamen.
Der Starchirurg ist im Ruhestand: Martin Meuli operierte mehr als 100 Kinder, noch bevor diese zur Welt kamen.
Bild Olivia Aebli-Item

Ein Pionier, der in der Schweiz ein Stück Medizingeschichte geschrieben hat. 2007 machte er Schlagzeilen mit der ersten Trennung von siamesischen Zwillingen in der Schweiz seit 24 Jahren. 2010 operierte er als einer der weltweit ersten Chirurgen überhaupt einen Fötus im Mutterleib. Seine ursprüngliche Spezialität sind aber Operationen von Kindern mit schweren Verbrennungen. Martin Meuli: Ein Pionier, der nun im Ruhestand ist.

Herr Meuli, Sie sind vor Kurzem in Pension gegangen, haben Ihren Abschied gebührend gefeiert. Sind Sie auch etwas traurig?

Martin Meuli: Nein, ich wusste seit jeher, dass dieser Moment kommt und habe mich auch nicht dagegen gewehrt. Ich sehe diesen dritten Lebensabschnitt als etwas Schönes und Erstrebenswertes an, den es mit spannenden Inhalten zu füllen gilt.

Es ist aber ein dauerhafter Abschied vom Skalpell.

Ja, und das ist auch gut so. Ich habe meine Arbeit – inklusive der allerletzten Operation – gut gemacht. Zum Zeitpunkt meines Abschieds war ich immer noch auf der Höhe meiner Aufgabe – und das ist gut und nötig. Ich wollte nie ein Chirurg sein, bei dem alle Leute aufatmen, kaum hat er den Operationssaal verlassen. Bei dem man tuschelt, dass seine Hände zittern oder er nicht mehr gut sieht und hört.

Davor hatten Sie Angst?

Ja, so einen kläglichen Abgang wollte ich nicht erleben. Ich wollte erhobenen Hauptes gehen, mit gutem Gewissen und positiven Kommentaren meiner engsten Mitarbeiter.

Als Sie in Zürich mit der Fetalchirugie begonnen haben, ist der beste Fetalchirurg der Welt nach Zürich geflogen, um Ihnen am Anfang über die Schulter zu schauen. Sie werden das beim Nachwuchs also nicht tun?

Das habe ich schon lange getan. Das war in den letzten anderthalb bis zwei Jahren Teil der Übergabe meiner Befähigungen und Erfahrungen an die nächste Generation. Ich habe mit den zwei Chirurgen, die diese Operationen heute in Zürich selbständig durchführen, bei Dutzenden von Operationen geübt. Noch bevor ich ging, konnten die beiden diesen Hochseilakt alleine, souverän, korrekt und hoch qualitativ durchführen. Mein Gewissen und Schlaf sind also absolut ungetrübt.

Themenwechsel. Sprechen wir über Ihre Arbeit als Chirurg. In Ihren Anfängen haben Sie Kinder mit schweren Verbrennungen operiert. Wie kam es dazu?

Ich wollte das alles ursprünglich gar nicht. Erst wollte ich nicht Kinderchirurg werden, sondern Allgemeinchirurg. Als ich infolge einer Rotation an das Kinderspital Zürich geschickt wurde, befürchtete ich nichts Gutes. Ich stellte mir die Arbeit dort furchtbar vor. Aber nach einer Woche war ich verliebt. Und das blieb so. In der Kinderchirurgie wollte ich  Brust- und Bauchchirurg werden, doch auch das lief vorerst mal anders. Die Chirurgen, die dannzumal die Verbrennungsabteilung geführt hatten, gingen. Und dann hat die Direktion entschieden: Der Meuli geht zur Verbrennung.

«Diese Operation ist die Besteigung der
Eiger-Nordwand bei Wetterumbruch
und kein Frühlingsspaziergang nach Brambrüesch.
Schlimme Sachen passieren,
selbst wenn man sich die grösste Mühe gibt.»

Wie haben Sie reagiert?

Irritiert. Fast schockiert. Ich dachte, «gopfridstutz», jetzt werde ich in die Verbrennung abgeschoben. Die Verbrennungschirurgie hatte damals den Ruf einer «nicht so richtigen Chirurgie». Die Operationen fanden immer erst spät am Nachmittag statt, dann, wenn alle grossen Operationen schon vorbei waren. Es war immer furchtbar heiss und feucht und es hat auch immer komisch gerochen. Es war nicht der Hit. Aber ich sagte mir, dass ich aus der Situation das Bestmögliche machen werde. Ich reiste also zu den paar weltbesten Spezialisten für Kinder, schaute mir bei ihnen Vieles ab, sog ihr Wissen und ihre Erfahrungen wie ein Schwamm auf und machte mich anschliessend mit meinem Team in Zürich an die Arbeit. Mit dem Ziel, aus unserer Verbrennungsabteilung ein universitäres Zentrum für brandverletzte Kinder von höchster Qualität  zu schaffen, was es heute ist. 

Sie haben einmal ein Mädchen operiert, deren Haut zu 80 Prozent verbrannt war. 

Ja, das war Sarah. Sie war lebensgefährlich verbrannt. Über viele Wochen. Es dauerte lange, die verbrannte Haut dieser grossen Körperareale, zu entfernen, um sie anschliessend mit ihrer eigenen, noch gesunden Haut zu decken. Nach einem halben Jahr war dieser kleine Körper wieder mit eigener Haut bedeckt. Natürlich mit bleibenden Narben. Es war ein katastrophales Ereignis, aber Sarah war ein kämpferisches, lebensbejahendes Mädchen. Das ist mir geblieben. Sie hat mich an Ihre Hochzeit eingeladen – sehr berührend!

Sie gingen in den Neunzigerjahren gemeinsam mit Ihrer Frau in die Staaten, um dort zu forschen. Weshalb im Bereich der Fetalchirugie und offenem Rücken – und nicht etwa in der Züchtung von Haut? Wäre naheliegender, wenn man bedenkt, dass sie Chirurg für verbrannte Kinder waren.

Das war es anfangs. Ich ging in die USA, um fetale Wundheilung zu studieren. Es gab eine Forschung, die zeigte, dass der Fötus seine Wunden heilt, ohne grosse bleibende Narben. Und ich, der in der Verbrennungschirurgie ständig mit furchtbaren Narben konfrontiert war, fragte mich, ob es nicht eine Möglichkeit gibt, die Wundheilung der Kinder zu «fetalisieren». Also habe ich geforscht, es war hoch interessant, aber es gab keinen Durchbruch, wie so oft in der Forschung. Umgestiegen bin ich, als ich in einer Fachzeitschrift las, dass das Rückenmark bei Föten mit offenem Rücken im Bauch der Mutter noch intakt erscheint, und dass es erst nach der Geburt zerstört ist. Ich habe mich deshalb gefragt, ob man den Rücken nicht vor der Geburt «flicken» könnte, in einer Zeit, da das Rückenmark eben noch funktioniert. Diese Hypothese hat sich bewahrheitet und so gab es dann einen Durchbruch: Aufgrund der mit meiner Frau zusammen geleisteten Forschung werden heute menschliche Föten mit offenem Rücken vorgeburtlich erfolgreich operiert. Auch in Zürich.

Können Sie sich noch an Ihre erste Operation an einem Fötus mit offenem Rücken erinnern?

Ja, es war eine riesige Sache. Die Operation ging am 20. Dezember 2010 um 14 Uhr los und endete um 17 Uhr. Etwa 30 Leute waren im OP-Saal.

Hatten Sie Angst? 

Nein, ich war zuversichtlich, weil wir zuvor viel «trocken» trainiert hatten, die Abläufe genau durchgegangen sind. Alle im Team hatten die höchsten Befähigungen, waren konzentriert und fokussiert. Ausserdem war Alan Flake aus Philadelphia dabei, einer der weltbesten Fetalchirurgen. Das alles ergab genug positive Energie, um daran zu glauben, dass alles gut gehen wird. 

Es ging alles gut aus. Es hat aber auch schon nicht geklappt.

Auf dem Operationstisch ist zwar kein Kind gestorben. Aber ja, zwei Kinder, die wir operiert haben, sind verstorben. Ein Kind haben wir im Mutterleib verloren. Die Operation war gut verlaufen, aber vier Tage später war der Herzschlag weg. Das zweite Kind haben wir nach der Geburt verloren. Die Operation verlief gut. Als das Kind zur Welt kam, konnte es aber nicht richtig atmen. Diese traurigen Erlebnisse zeigen, dass immer ein Risiko besteht. Diese Operation ist die Besteigung der Eiger-Nordwand bei Wetterumbruch und kein Frühlingsspaziergang nach Brambrüesch. Schlimme Sachen passieren, selbst wenn man sich grösste Mühe gibt. So ist die Medizin.

Diese vorgeburtlichen Operationen, die Sie schlagartig berühmt gemacht haben, sind komplizierte Eingriffe. Genauso wie die Trennung siamesischer Zwillinge oder die Entfernung von Tumoren. Stimmt das Klischee, je komplizierter der Eingriff, desto interessanter für Chirurgen?

Zum Teil. Wenn ein Kind ein kleines Problem hat, etwa einen Leistenbruch, dann muss dieser kurze und einfache Eingriff zwar mit der gleichen Sorgfalt durchgeführt werden wie ein komplizierter Eingriff, ist für Chirurgen aber kein Hochseilakt. Für Eltern ist aber jede noch so kleine Operation ein Eingriff ins Kinds- und Familienleben, manchmal sogar ein Drama, weshalb, menschlich betrachtet, auch diese Erfahrungen sehr bereichernd sind. Man muss betroffenen Eltern bei jeder noch so kleinen Problematik ernsthaft und auf Augenhöhe begegnen. Das ist eine vornehme ärztliche Herausforderung.

Herr Meuli, nicht immer war klar, dass Sie Mediziner werden. Operngesang hat Sie genauso fasziniert. Gehörten Sie daher zu jener Sorte Chirurg, die im Operationssaal Musik hört? 

Das kam vor, gerade bei langen Eingriffen, war aber nicht Standard. Musik, die im Hintergrund läuft, hat einen beruhigenden Effekt. Bei Verbrennungsoperationen, die unendlich lange dauerten – und dann noch bei dieser Hitze – haben wir gelegentlich sogar selbst gesungen. Zur Ermutigung und Ermunterung. «Wenn ich ein Vöglein wär», «Der Mond ist aufgegangen» oder englische Seemannslieder, in denen von Bord Gefallene mit einem Rettungsring gerettet wurden. Bei uns war der Patient jener, der gerettet werden musste. Irgendwie ein bitzli schräg, tat aber der Seele und dem Teamgeist gut. Bei komplizierten Eingriffen haben wir das aber nicht gemacht. Nie!

Wer ist die «Bündner Persönlichkeit 2021?»

Die «Südostschweiz»-Medienfamilie sucht wieder die Bündner Persönlichkeit des Jahres. Für 2021 nominiert sind Bischof Joseph Maria Bonnemain, Künstlerin Miriam Cahn, Kantonsärztin Marina Jamnicki, die Churer Tourismusdirektorin Leonie Liesch und Kinderchirurg Martin Meuli.

 Martin Meuli ist Pionier im Bereich der Kinder- und Fetalchirurgie und hat ein Stück Schweizer Medizingeschichte geschrieben. Als Spezialist für Verbrennungen hat er am Kinderspital Zürich ein europaweit führendes Zentrum für verbrannte Kinder geschaffen. Und er entdeckte die Möglichkeit, ungeborene Föten mit Spina bifida im Mutterleib zu operieren, und führte als einer der ersten Chirurgen weltweit diese Operation durch, ersparte den Kindern so ein Leben im Rollstuhl.

Interviews und Voting-Infos: www.suedostschweiz.ch/bpj

Kristina Schmid berichtet über aktuelle Geschehnisse im Kanton und erzählt mit Herzblut die bewegenden Geschichten von Menschen in Graubünden. Sie hat Journalismus am MAZ studiert und lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern im Rheintal, worüber sie in ihrem Blog «Breistift» schreibt. Mehr Infos

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Grandiose Persönlichkeit! Hochintelligent, sehr kollegial, mutig und bei allem sehr gute Bodenhaftung. Er nimmt sich selbst nicht zu ernst, so dass er auch über sich selber herzhaft lachen kann! Meine Stimme hat er!

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