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«Was heisst schon liberal?»

Joseph Maria Bonnemain ist noch kein Jahr Bischof von Chur. Und doch hat er in einem zerstrittenen Bistum erste Brücken geschlagen. Grund genug, ihn als «Bündner Persönlichkeit 2021» zu nominieren.

Kristina
Schmid
10.01.22 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Brückenbauer: Bischof Joseph Maria Bonnemain hat das hohe kirchliche Amt nicht gesucht, er wäre als Spitalseelsorger sehr zufrieden gewesen.
Brückenbauer: Bischof Joseph Maria Bonnemain hat das hohe kirchliche Amt nicht gesucht, er wäre als Spitalseelsorger sehr zufrieden gewesen.
Bild Olivia Aebli-Item

Eigentlich hat Bischof Joseph Maria Bonnemain keine Lust auf dieses Interview. Nicht nur, weil er es für unangebracht hält, als «Bündner des Jahres» nominiert zu sein. Sondern auch, weil er lieber «sinnvolle» Arbeit leisten würde, statt in Interviews – ganz generell – darüber zu reden. Und doch verschliesst er sich auch dieser Aufgabe nicht, selbst wenn er es könnte. Es gehöre dazu. Dieses ungewollte Rampenlicht und die Pflicht, Red und Antwort zu stehen.

«Exzellenz» wäre die korrekte Anrede für einen Bischof. Möchten Sie so angesprochen werden?

Jospeh Maria Bonnemain: Auf keinen Fall.

Liegen Ihnen Traditionen denn nicht am Herzen?

Tradition im tiefen Sinn schon. Aber nicht in Form von Umgangsformen oder Bezeichnungen, die den Eindruck erwecken, einige Menschen seien wertvoller oder wichtiger als andere. Das Wort Exzellenz suggeriert das, was ich nicht will.

Sie könnten andere Bischöfe mit dieser Aussage vor den Kopf stossen.

Ich hoffe nicht. Und wenn, würde ich ihnen sagen, dass sie sich von mir aus weiterhin Exzellenzen nennen lassen dürfen. Wobei ich sagen muss, dass selbst der Papst die Kardinäle in Rom dazu anhält, sich nicht Eminenzen zu nennen. 

Bei Ihrer Weihe mussten Sie neun Versprechen abgeben, darunter auch, dass Sie sich an Tradition und Lehre der Katholischen Kirche halten werden. Ist das kein Widerspruch?

Nein, die Lehre der Kirche hat nichts mit Paragrafen oder Vorschriften zu tun. Die Lehre der Kirche ist etwas 100 Prozent Lebendiges. Jesus Christus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben. An ihm festzuhalten, mit ihm vertraut zu werden, ihm nachzufolgen, so kompromisslos zu leben wie er, das ist die Lehre der Katholischen Kirche. 

Jesus hat aber nicht gesagt, lebt wie ihr wollt. Er hat klare Richtlinien gegeben. Verstehen Sie, dass es deshalb innerhalb der Kirche zu Spannungen kommt zwischen jenen, die bewahren und jenen, die verändern wollen?

Das verstehe ich. Und es gibt eine Lösung für dieses Problem. Jene, die bewahren wollen, wollen treu sein. Sie vergessen aber, dass sie etwas Lebendigem treu sein wollen. Und alles, was lebendig ist, wächst und verändert sich. Jene, die alles verändern wollen, müssen einsehen, dass wir so die Nähe zu Jesus verlieren. Treu nach seiner Botschaft zu leben, legt uns kein Korsett an, sondern schenkt uns Freiheit. 

«Freiheit heisst,
die Möglichkeit zu haben, aus eigener Überzeugung
für das Gute einzustehen.»

Wo ist die Lösung?

Liebe und Verständnis. «Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.» Das hat Jesus gesagt. Wenn wir das machen, sind wir auf einem guten Weg. Differenzen entstehen, weil jeder glaubt, sein Weg sei der einzig richtige. Wenn man nur vom eigenen Standpunkt überzeugt ist, entsteht kein Dialog, keine Beziehung. Ich bin überzeugt, dass der andere mit seiner Meinung eine Bereicherung für mich sein kann. 

Haben Sie sich also mit den Domherren, die noch im Bistum tätig sind, ausgesöhnt? Das Domkapitel wollte Sie nicht als Bischof, lehnte die Vatikan-Liste ab, auf der auch Ihr Name stand, weil Sie ihnen wohl zu moderat sind.

Wenn wir das «Vater unser» beten, beten wir: «Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.» Ich kann das nur beten, wenn ich mich aufrichtig darum bemühe.

Widersetzen Sie sich manchmal bewusst den Lehren der Katholischen Kirche, weil sie Liebe und Nächstenliebe höher gewichten? Gemäss den Regeln der Katholischen Kirche dürfen Sie etwa Reformierten die Kommunion nicht spenden. Sie taten es dennoch.

In der Katholischen Kirche glauben wir, dass der auferstandene Christus in jeder einzelnen Hostie real präsent ist, und sich beim Empfang der Kommunion mit uns vereinigt. Jesus hat seinen Aposteln beim letzten Abendmahl gesagt: «Das ist mein Leib, das ist mein Blut, tut dies in meinem Gedächtnis.» Die Apostel waren die ersten Bischöfe. Es hat also alles einen Zusammenhang. Wenn ich also kommuniziere, dann mache ich das, weil ich an all das glaube. Wenn jemand aber infrage stellt, dass es Bischöfe oder geweihte Priester gibt, dann hat er nicht die Voraussetzungen, um zur Kommunion zu gehen.

Was auf reformierte Christen zutrifft.

Grundsätzlich. Aber am Ende weiss ich es nicht. Um das herauszufinden, müsste ich in das Herz des Menschen schauen, mit ihm darüber reden. Das kann ich während eines Gottesdienstes nicht tun. Daher wäre es lieblos, jemandem die Kommunion zu verweigern, weil ich behaupte, er glaube nicht daran. Woher soll ich das wissen? Primär gehe ich also davon aus, dass er diese glaubende Herzensgesinnung trägt, wenn er zur Kommunion kommt.

Nun gut. Bischof Joseph Maria, wie liberal sind Sie als Katholik also wirklich?

Was heisst schon liberal? Jesus hat gesagt, die Wahrheit werde uns frei machen. Wenn liberal sein heisst, von der Freiheit überzeugt zu sein, dann bin ich 100 Prozent liberal. Aber Freiheit bedeutet nicht, keine Verantwortung zu übernehmen. Freiheit heisst nicht, nach eigenem Gusto zu handeln. Freiheit heisst, die Möglichkeit zu haben, aus eigener Überzeugung für das Gute einzustehen.

In den Medien werden Sie gerne als liberal bezeichnet. Viele hoffen, als Liberaler würden Sie – um ein Beispiel zu nennen – die Segnung von homosexuellen Paaren befürworten. Stimmt das?

Ganz pauschal alle homosexuellen Paare zu segnen, das ist banal. 

Warum ist das banal?

Ich segne auch nicht pauschal heterosexuelle Paare. Wenn ein Pärchen zu mir kommt, das meinen Segen wünscht, muss ich erst wissen, was für eine Beziehung sie führen. Ist das Liebe? Sind sie bereit, einander treu zu bleiben? Sind sie offen für neues Leben? Ich kann also keine Menschen oder Paare pauschal segnen. Jede Situation muss einzeln berücksichtigt werden. 

Sie sprechen hier von Voraussetzungen für die Ehe.

Ich finde es gut, hat der Staat mit der Abstimmung «Ehe für alle» auch für gleichgeschlechtliche Partnerschaften eine gesetzliche Sicherheit geschaffen. Nur habe ich Mühe damit, das als eine Ehe zu bezeichnen, weil sich eine Ehe in der christlichen Lehre auf einen Lebensbund zwischen Mann und Frau bezieht, die sich bis zum Ende ihres Lebens treu bleiben wollen und die eine Familie gründen wollen. Wenn die Kirche das Sakrament der Ehe feiert, muss sie sich sicher sein, dass das Paar diese Anforderungen erfüllen will. Dass sie bereit sind für diesen Wahnsinn. 

Diesen Wahnsinn?

Sich zu binden für das ganze Leben! Und das, obwohl das Leben grosse Entwicklungen erfährt und man riskiert, mit einer Person verbunden zu sein, die sich vielleicht schwierig entwickelt. Der Staat kennt die Scheidung. Eine Ehe auf Zeit, kennt die Kirche nicht. Deshalb sollte die Ehevorbereitung viel gründlicher verlaufen als heute.

Ist das eine der Veränderungen, die Sie sich also innerhalb der Kirche wünschen würden?

Absolut. Heute muss man nur ein Formular ausfüllen. Das ist unzureichend. Die Ehevorbereitung, aber auch die Ehebegleitung, sollte gründlicher angegangen werden. In den ersten fünf Jahren entstehen kleine Probleme, die, recht angepackt, gelöst werden können.

Ein Beispiel.

Ein Mann kommt abends von der Arbeit nach Hause und die Frau sagt: «Wir müssen reden. Etwas stimmt in unserer Beziehung nicht.» Der Mann antwortet: «Für mich ist alles in Ordnung.» Das ist dumm, denn wenn die Partnerin signalisiert, dass etwas nicht stimmt, dann muss er das ernst nehmen. Sie hat vielleicht eine höhere Sensibilität für Unverträglichkeiten oder Missverständnisse, die er als Partner gar nicht wahrnimmt.

Gerade Frauen stören sich an der geringen Rolle der Frau in der Kirche. Sie bemängeln, die Frau hätte nichts zu sagen.

Mutter Teresa hat als Frau in der Kirche mehr zustande gebracht und verändert als viele Bischöfe und Päpste. Wir alle, Frauen und Männer, tendieren dazu, uns zu sehr mit uns selbst zu beschäftigen. Das grosse Wagnis ist, von sich selbst Abstand zu nehmen. Statt zu sagen, «ich habe diese Rechte nicht»; sollten wir unsere Energie nützen, um Gutes zu tun. So wie Mutter Teresa. Obwohl sie kein Priester war, hat sie die Kirche verändert. Man kann in der Gegenwart glücklich sein, wenn man sich für das Gute in der Welt einsetzt.

Das ist nun Ihre Aufgabe als Bischof.

Ich versuche es. Wir alle sind bis zum Schluss Lehrlinge der Liebe. Wissen Sie, eine ganze Nacht lang habe ich überlegt, ob ich die Ernennung zum Bischof annehmen soll. Ich war glücklicher Seelsorger, betreute kranke Menschen im Spital. Ich wollte aber die Menschen im Bistum nicht enttäuschen und noch länger auf einen Bischof warten lassen. Also sagte ich ja. Ich bin glücklich über den Entscheid. Nicht wegen mir, sondern vielmehr wegen der Menschen im Bistum, die darüber so erleichtert sind.

Wer ist die «Bündner Persönlichkeit 2021»?

Die «Südostschweiz»-Medienfamilie sucht wieder die Bündner Persönlichkeit des Jahres. Für 2021 nominiert sind Bischof Joseph Maria Bonnemain, Künstlerin Miriam Cahn, Kantonsärztin Marina Jamnicki, die Churer Tourismusdirektorin Leonie Liesch und Kinderchirurg Martin Meuli.

Joseph Maria Bonnemain wurde in Barcelona als Sohn einer Katalanin und eines Jurassiers geboren und ist Mitglied des Opus Dei. Papst Franziskus ernannte Bonnemain am 15. Februar 2021 zum Bischof von Chur. Er tat dies, nachdem das Churer Domkapitel im November 2020 auf sein Recht zur Bischofswahl verzichtet hatte. Unter den drei zur Wahl stehenden Kandidaten befand sich auch Bonnemain auf der Liste. 

Interviews und Voting-Infos: www.suedostschweiz.ch/bpj

Kristina Schmid berichtet über aktuelle Geschehnisse im Kanton und erzählt mit Herzblut die bewegenden Geschichten von Menschen in Graubünden. Sie hat Journalismus am MAZ studiert und lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern im Rheintal, worüber sie in ihrem Blog «Breistift» schreibt. Mehr Infos

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Das ist wohl sonnenklar! Wir müssen uns dafür stark machen, dass der neue Bischof gewählt wird.
Ambühl ist zwar auch eine gesuchte Persönlichkeit. Er soll aber noch ein Jahr warten.
Zwar habe ich Mühe mit der Katholischen Kirche. Vieles ist unglaubwürdig und teilweise mafiös. Nach Jahrzehnten ist nun ein Bischof am Ruder, der glaubwürdig ist, dem man die Hand geben und in die Augen schauen kann. Hoffentlich sorgt er weiterhin dafür, dass dieses Getue im Bistum ein Ende hat.

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