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Biden verteidigt Abzug aus Afghanistan - Alles schaut nun auf Taliban

Nach dem Ende des internationalen Militäreinsatzes in Afghanistan hat US-Präsident Joe Biden seine umstrittene Abzugsentscheidung vehement verteidigt. «Es war an der Zeit, diesen Krieg zu beenden», sagte Biden am Dienstag im Weissen Haus.

Agentur
sda
01.09.21 - 09:53 Uhr
Politik
US-Präsident Joe Biden spricht im State Dining Room des Weißen Hauses über Afghanistan. Biden hat am Dienstag nach dem Ende des internationalen Militäreinsatzes in Afghanistan seine umstrittene Abzugsentscheidung vehement verteidigt. «Es war an der Zeit,…
US-Präsident Joe Biden spricht im State Dining Room des Weißen Hauses über Afghanistan. Biden hat am Dienstag nach dem Ende des internationalen Militäreinsatzes in Afghanistan seine umstrittene Abzugsentscheidung vehement verteidigt. «Es war an der Zeit,…
Keystone/AP/Evan Vucci

Die Alternative wäre gewesen, Zehntausende weitere Soldaten in das Land zu schicken und den Konflikt zu eskalieren, argumentierte er. Mit dem Abzug der letzten US-Soldaten vom Flughafen Kabul war in der Nacht zu Dienstag der internationale Afghanistan-Einsatz nach fast 20 Jahren zu Ende gegangen. Nun richten sich die Blicke auf die erneute Herrschaft der militant-islamistischen Taliban in dem Land. Die Vorstellung der neuen Führung wird in Kürze erwartet. Aussenminister Heiko Maas (SPD) ist an diesem Mittwoch weiter zu Gesprächen in Katar - das Golfemirat zählt zu den Ländern mit den besten Kontakten zu den Taliban.

In der Nacht zu Dienstag hatte das letzte US-Militärflugzeug den Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul verlassen. Damit endete Amerikas längster Krieg. Biden betonte erneut, sein Vorgänger Donald Trump habe eine Vereinbarung mit den Taliban geschlossen und den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan zugesagt. Er selbst habe die Wahl gehabt, daran festzuhalten oder Zehntausende weitere US-Soldaten in den Krieg zu schicken. Biden betonte, er habe den Krieg nicht ewig verlängern wollen - auch den Abzug nicht.

Biden kündigte Konsequenzen für künftige militärische Einsätze an. «Wir müssen aus unseren Fehlern lernen», sagte er. «Es geht darum, eine Ära grosser Militäroperationen zur Umgestaltung anderer Länder zu beenden.» Künftige Einsätze müssten klare, erreichbare Ziele haben. Sie müssten sich ausserdem «auf das grundlegende nationale Sicherheitsinteresse» der USA konzentrieren.

Der Präsident versprach ausserdem, die USA würden auch nach dem Abzug aus Afghanistan weiter gegen den örtlichen Ableger der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) vorgehen. Er drohte der Gruppe, die sich zum jüngsten verheerenden Anschlag am Flughafen in Kabul bekannt hatte: «Wir sind mit euch noch nicht fertig.» Bei der Attacke waren kurz vor dem Einsatzende Dutzende Afghanen und 13 US-Soldaten umgekommen.

Mit dem Abzug der letzten US-Soldaten endete auch die militärische Evakuierung von US-Bürgern, Verbündeten und schutzbedürftigen Afghanen. Die USA und ihre Partner hatten in den vergangenen gut zwei Wochen in einer gewaltigen Evakuierungsmission westliche Staatsbürger und afghanische Schutzbedürftige ausgeflogen. Allein das US-Militär brachte nach Angaben der US-Regierung rund 79 000 Zivilisten ausser Landes, darunter rund 6000 Amerikaner. Die USA und ihre Verbündeten hätten gemeinsam mehr als 123 000 Menschen ausgeflogen.

Immer noch befinden sich aber Zehntausende Menschen in Afghanistan, die vor den Taliban fliehen wollen - die meisten davon Afghanen. Biden sagte, es seien wohl auch noch 100 bis 200 US-Bürger in Afghanistan, die «eine gewisse Absicht zur Ausreise» hätten. Die meisten zurückgebliebenen seien doppelte Staatsbürger und hätten eine langfristige Bindung an Afghanistan. «Wir halten daran fest, sie rauszubekommen, falls sie rauskommen wollen», sagte Biden.

Die US-Regierung und andere Partner haben zugesagt, sie wollten sich auch nach dem Abzug der internationalen Truppen dafür einsetzen, dass ausreisewillige Afghanen und westliche Staatsbürger das Land ungehindert verlassen dürften. Dafür sind sie auf die Kooperation mit den Taliban angewiesen. Diese haben zumindest zugesagt, Ausreisen zu gewähren. Wie genau das geschehen soll, ist offen. Nach Angaben von Aussenminister Maas sind auch noch rund 300 Deutsche in Afghanistan.

Der deutsche Chefdiplomat beendet an diesem Mittwoch seine viertägige Reise in fünf Länder, die mit der Afghanistan-Krise zu tun haben. Seit Sonntag besuchte Maas die Türkei und danach Afghanistans Nachbarländer Usbekistan, Tadschikistan und Pakistan. Am Dienstagnachmittag war er zu seiner letzten Station Katar aufgebrochen, von wo er am Mittwoch nach Deutschland zurückreist.

Das Golfemirat zählt zu den Ländern mit den besten Kontakten zu den Taliban. Die neuen Machthaber in Afghanistan haben dort auch ihr politisches Büro, das quasi als Aussenministerium fungiert. Maas hat den Diplomaten und Afghanistan-Experten Markus Potzel in die katarische Hauptstadt Doha entsandt, um dort Gespräche mit den Islamisten zu führen. Die Bundesregierung setzt auf deren Kooperationsbereitschaft bei den Bemühungen um die Ausreise von mehr als 40 000 schutzsuchenden Afghanen. Maas hatte vor seinem Besuch in Katar klargestellt, er werde nicht selbst mit den Taliban reden.

Maas zeigte sich optimistisch, eine Lösung für die in Afghanistan verbliebenen Deutschen und für afghanische Ortskräfte zu erreichen. Die Taliban hätten sich bereiterklärt, sie ausreisen zu lassen, und sie seien auf internationale Hilfe angewiesen, etwa beim Betrieb des Flughafens in Kabul, sagte Maas am Dienstagabend im ZDF-«Heute Journal». Die westlichen Staaten sind nach seinen Worten aber nicht erpressbar: «Wir haben auch klare Voraussetzungen definiert. Das sind: die Einhaltung der Menschenrechte, die Tatsache, dass überhaupt Menschen weiter ausreisen können, dass keinen terroristischen Gruppen Unterschlupf gegeben wird in Afghanistan.»

Derweil warnte UN-Generalsekretär António Guterres vor dem völligen Zusammenbruch der Grundversorgung in Afghanistan. «Eine humanitäre Katastrophe bahnt sich an», sagte Guterres in New York. «Fast die Hälfte der Bevölkerung Afghanistans - 18 Millionen Menschen - sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, um zu überleben.» Alle Mitgliedstaaten seien aufgefordert, «sich für die Menschen in Afghanistan in ihrer dunkelsten Stunde der Not einzusetzen».

Mit dem Truppenabzug überlässt der Westen das Land wieder jenen Islamisten, die er durch den US-geführten Einsatz Ende 2001 entmachtet hatte. Die Taliban hatten Mitte August nach einem militärischen Eroberungszug, der sich nach Bidens Abzugsankündigung rasant beschleunigt hatte, in Afghanistan wieder die Macht übernommen. Bisher traten die Islamisten gemässigter auf als während ihrer Herrschaft von 1996 bis 2001. Viele Afghanen bezweifeln aber, dass sie bei dieser Linie bleiben. Es gibt Berichte über Menschenrechtsverletzungen und Angriffe auf Journalisten.

Bisher ist weitgehend unklar, wie die Taliban das Krisenland regieren wollen. Der Taliban-Führungsrat besprach die Bildung einer neuen islamischen Regierung sowie die aktuelle Lage und die Sicherheit im Land bei einem Treffen in der südlichen Provinz Kandahar. Das Treffen von Samstag bis Montag leitete Taliban-Führer Haibatullah Achundsada, wie Sprecher Sabiullah Mudschahid am Dienstag auf Twitter mitteilte. Auch über ein neues islamisches Kabinett sei dabei gesprochen worden. Anschliessend habe Achundsada dem Führungsrat umfassende Anleitungen gegeben. Der Ort des Treffens wurde nicht genannt.

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Donald Trump hatte den Abzug schon lang angekündigt, Joe Biden bekräftigt. Die europäischen Verantwortlichen hatten alle Zeit ihre Leute in Ruhe ausfliegen zu lassen.
Was man wochenlang versäumt hat, musste man nun mit gefährlichen Kommandoaktionen nachholen. Und die, die von Anfang an gegen die "Verteidigung Europas am Hindukusch" waren, sind jetzt wieder die lachenden Dritten.

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