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Frauenpower auf 2236 Meter über Meer

Von der Schneeschmelze über Corona bis hin zum Hüttenstart. Wir waren hautnah bei den Vorbereitungen in einer der SAC-Hütten dabei, welche auch in diesem Sommer ihre Türen öffnen wird. Eine Aufgabe, die einem alles abverlangt, von wunden Händen und schlotternden Knien bis zum klaren Denken.

05.06.20 - 04:30 Uhr
Ereignisse

Schweisstropfen kullern übers Gesicht. Die Sonnenbrille ist montiert, nicht nur wegen der Sonne, die an diesem Vormittag scheint. Vielmehr wegen der Reflektion des Schnees. Aber weder das Wetter noch irgendwelche Gäste sind der Grund für die Schweissperlen. Diese sind für Hüttenwarte nichts Aussergewöhnliches, denn das Hüttenleben ist anstrengend. Der Grund für die Schweisstropfen an diesem Vorbereitungstag sind mehrere Schneefelder, welche die erst teilweise erkennbare Strasse zur Carschinahütte im Prättigau bedecken. Und genau diese Strasse sollte in zwei Wochen schneefrei sein. Also: Schaufel packen und los gehts. Auch ich packe mit an. Schneeschaufeln, etwas, was ich in diesem Jahr zum ersten Mal mache, da im Tal eigentlich nie wirklich viel Schnee lag. Irgendwie ist diese Arbeit schon nach wenigen Minuten hart, weil die Hütte kaum mehr als 20 Minuten zu Fuss entfernt scheint. «Der Weg muss frei sein, weil wir zweimal wöchentlich mit dem «Reform» ins Tal fahren müssen, um Lebensmittel und Getränke zu holen», erklärt mir Kim, eine der beiden Hüttenwartinnen.

Kim Sieber ist 35-jährig und in Jonschwil (SG) aufgewachsen. Sie hat ihre Ausbildung zur Gastronomiefachassistentin auf der Lenzerheide absolviert und ist danach direkt geblieben. Graubünden hat es ihr seit rund 17 Jahren angetan. Sie liebt die Berge, geht gerne klettern und ist nie um einen Spruch verlegen.

Die Schneefelder müssen weg, spätestens bis zum Beginn der Saison.
Die Schneefelder müssen weg, spätestens bis zum Beginn der Saison.

Das Schneeschaufeln geht weiter. Allerdings ist schnell klar: Schneefrei werden wir  Kim, Sonja die zweite Hüttenwartin, zwei Helfer und ich  die Strasse an diesem Tag nicht machen können, es warten noch drei weitere Schneefelder und die Zeit rennt uns davon. Also wird der Schnee auf der Strasse erst einmal gelockert, damit er schneller schmelzen kann. «Mit dem Schnee haben wir gerechnet. Das haben uns die Vorgänger bereits mit auf den Weg gegeben», sagt Kim. Selbstverständlich seien solche Tipps der Vorgänger nicht. Aber die beiden jungen Frauen sind froh darüber, auch wenn sie ihre eigenen Ideen umsetzen werden. «Kein Sommer ist schliesslich wie der andere. Das zeigt schon die Schneesituation im Vergleich zum letzten Jahr», so Sonja. Damals musste die erste Warenlieferung noch mit dem Heli geflogen werden. Jetzt können zumindest diese Kosten gespart werden. «Die Strasse ist ein grosser Vorteil der Carschinahütte. Wir müssen im Normalfall keinen Helikopter anfordern und können für unsere Gäste sehr frisch kochen», erklärt Sonja, die zweite Hüttenwartin.

Sonja Lütolf ist 37-jährig und in Altstätten (SG) aufgewachsen. Sie absolvierte eine Lehre als Kleinkinderzieherin, zog dann aber bald für einen Saisonjob im Service auf die Lenzerheide. Und aus der geplanten einen Saison wurden zwei, drei, vier… 13 Jahre. Zuletzt war sie Betriebsassistentin in einem Bergüner Hotel. Sonja Lütolf ist im Herzen längst Berglerin und das administrative Gedächtnis der Carschinahütte.

Kim Sieber und Sonja Lütolf steht der erste Sommer als Hüttenwarte bevor. Und es dürfte einer werden, den sie ihr Leben lang nicht mehr vergessen.

Sonja Lütolf (links) und Kim Sieber darüber, weshalb sie Hüttenwartinnen geworden sind und auf was sie sich freuen.

Ein Sommer voller Regeln

Für immer in Erinnerung bleiben wird den beiden Frauen ihr erster Sommer aber nicht nur wegen der Premiere, sondern vielmehr auch wegen Corona. Denn auch auf knapp 2300 Meter über Meer ist das Virus ein Thema.

Das Schutzkonzept für die SAC Hütten sieht folgendermassen aus:

Gästegruppen von mehr als vier Personen am gleichen Tisch sind erlaubt. Die Gästegruppen müssen an den einzelnen Tischen so platziert werden, dass die Empfehlungen des Bundesamts für Gesundheit (BAG) betreffend soziale Distanz zwischen den Gruppen eingehalten werden. Zudem müssen pro Gästegruppe die Kontaktdaten mindestens einer Person erhoben werden können. Die Distanzregelung muss auch in den Schlafsälen eingehalten werden. Der Begriff «Gruppe» impliziert, dass sich die betreffenden Personen kennen. Nach wie vor müssen die Gäste an den Tischen bedient werden. Die Schutzvorkehrungen in den Schlafräumen sowie alle weiteren Massnahmen in den Berghütten behalten ebenfalls ihre Gültigkeit.

Es gilt:

  • Besuche unsere Hütten nur in gesundem Zustand.
  • Reserviere deinen Schlafplatz – ohne Reservierung keine Übernachtung.
  • Bringe selber mit: Hüttenschlafsack, Kissenbezug, Desinfektionsmittel resp. Seife, Handtuch (ggf. Schutzmasken).
  • Nimm deinen Abfall wieder mit ins Tal.

Das Schneeschaufeln haben wir vorerst aufgegeben und nach einem kurzen Fussmarsch erreichen wir die Hütte. Noch ist die Carschinahütte im Winterschlaf. Doch der Ausblick, der raubt einem den Atem. Das kann bei einigen Besuchern auch vom Hochsteigen kommen. Allerdings ist die Umgebung wirklich eindrücklich. Auch wenn das Wetter mittlerweile nicht mehr auf unserer Seite ist.

Die Carschinahütte aus luftiger Höhe.

Die Carschinahütte liegt auf 2236 Metern über Meer oberhalb von St. Antönien am Fusse der Sulzfluh mit Blick auf das Rätikonmassiv. Sie liegt am Prättigauer Höhenweg und ist Ausgangspunkt für Biker, Kletterer und Wanderer. Die Hütte gehört der Sektion Rätia des Schweizerischen Alpenclubs und wurde 1968 erbaut. Im Jahre 1985 erfolgte ein erster Umbau und 1993 ein Erweiterungsbau. Die Hütte bietet normalerweise 85 Schlafplätze. Sie ist in der Sommersaison von Mitte Juni bis Mitte Oktober bewirtschaftet. Im Winter gibt es einen Schutzraum für zehn Personen.

Sonja öffnet die grosse Eingangstüre der Hütte. Ihre Freude ist kaum zu übersehen. Hinter dem Vorraum kommt ein Gitter zum Vorschein, das einen eher an ein Gefängnis als an eine Berghütte erinnert. « Es gab in der Vergangenheit im Winter immer wieder Fälle, dass Leute auf der Suche nach Bargeld mehrere Türen zerstörten.» Deshalb gibt es nun diese Sicherheitsvorkehrung in Form eines Gitters. Diese stellt sicher, dass die Winterraum-Gäste keinen Zugang zum Rest der Hütte haben.

Stopp: Im Winter sind die meisten Räume für die Besucher nicht zugänglich.
Stopp: Im Winter sind die meisten Räume für die Besucher nicht zugänglich.

Die Hütte ist nach dem langen Winter kalt und leer. Der Geruch irgendwie abgestanden. Es ist der Geruch, den viele Hüttengäste mit Bergtouren im Winter verbinden. In Winter hat die Hütte Platz für zehn Personen – aktuell also für eine Gruppe, egal ob mit zwei oder acht Personen. Mindestens einmal pro Monat kommt eine der Hüttenwartinnen hoch, um zu schauen, ob alles in Ordnung ist. Und das neben dem Beruf, welchem beide noch bis vor Kurzem zu 100 Prozent nachgingen. Also weiterarbeiten am freien Tag oder auch schon mal am Abend nach Arbeitsschluss. «Kompromisse, die muss man als Hüttenwart halt eingehen. Wer diese Aufgabe nicht liebt, sollte sie nicht machen», sind sich die beiden Hüttenwartinnen einig. Überstunden, die gehören zum Alltag. Genauso wie reklamierende Gäste. Oder solche, die ihren Abfall in den Bergen liegen lassen. Sich aufregen, das mache man als Hüttenwart längst nicht mehr wegen solcher Vorkommnisse. «Sonst würde ich mich viel zu oft aufregen», sagt Sonja mit einem Lächeln.

Abfall ins Tal bringen, das ist ein gutes Stichwort. Eigentlich gehört das zu den Hüttenregeln, ob mit oder ohne Corona. Und trotzdem hat jemand im Hüttenraum eine leere PET-Flasche einfach liegen lassen.

Dunkel und leer: Noch sind die Massenlager nicht in Betrieb.
Dunkel und leer: Noch sind die Massenlager nicht in Betrieb.

«Gemütlich wird es trotzdem»

Ganz anders sieht es beim ersten Augenschein nach der Winterpause in den acht Massenlagern der Hütte aus. Die Zimmer sind noch dunkel und leer. Auch hier wieder dieser abgestandene Geruch. «Genau dieser Geruch erinnert mich ans Hüttenleben. Da geht mein Herz auf», sagt Sonja und strahlt. Die Vorfreude, dass es bald losgeht, ist nicht zu übersehen. Bis zum 12. Juni – am Tag der Eröffnung – gibt es aber noch einiges zu tun. Mindestens zwei Tage Fenster putzen, alles abwaschen, Decken und Kissen frisch beziehen usw.

Kim besucht zudem noch ein Bettwanzen-Seminar. Auch solche Fortbildungen gehören zur Vorbereitung. Hinzu kommt ganz viel Administration. Zudem der Menüplan, der Dienstplan oder die Bewerbungsgespräche mit dem künftigen Hüttenpersonal. Ohne diese Arbeitskräfte wären Hüttensommer mit vielen Gästen wohl kaum zu managen. «In diesem Sommer haben wir drei Fixangestellte. Dazu kommen noch die Hüttenwöcheler meistens Schüler, die ihren Ferienjob hier oben machen.» Normalerweise seien es mehr Angestellte. Aber sie hätten als Hilfskräfte noch Familie und Kollegen, falls es zu einem Engpass komme, sagt Kim. Und wie wir schon wissen: 2020 ist kein normales Jahr – wegen Corona.

Wie viel Kapazität die Hütte diesen Sommer haben wird, ist schwer zu vorauszusagen. Denn das Ganze ist stark von den Gruppengrössen abhängig. Jede Gruppe egal ob zwei oder sechs Personen – muss an einem eigenen Tisch essen. Die Hütte hat zehn Tische. Gibt es also zehn Paare, die für einen Abend reservieren, übernachten gerade mal 20 Personen in der Hütte. Gibt es aber zehn Gruppen à sechs Personen, sind es 60 und das entspricht beinahe die Maximalkapazität von 85 Personen. Grundsätzlich sind die Einschränkungen in einer Hütte, in der Grösse der Carschinahütte, nicht extrem hart, aber sicherlich spürbar. 

Es wird immer kälter nichts Unübliches auf dieser Höhe. Denn der Wetterwechsel und die kalten Temperaturen, manchmal sogar der Schneefall, all das gehört zu einem Hüttensommer wie der «Kafi Luz» bei der Kennenlernrunde. Irgendwie kommt das Gefühl in mir hoch, näher zusammenrücken zu wollen. Das, was die Abende in den SAC-Hütten eigentlich ausmacht. Es ist manchmal ein bisschen wie in einer anderen Welt, in der alle einen Schritt näher aufeinander zugehen. Doch genau das wird es diesen Sommer eben nicht geben. 

Gemütlich werde es aber trotzdem, ist sich Sonja sicher. «In der Stube kann man immer noch miteinander quatschen und zusammen sein. Hinzu kommt die Einfachheit des Lebens in den Bergen: das Gesicht morgens mit kaltem Wasser zu waschen, das wird immer noch so sein.» Und eigentlich kann man das Ganze auch von einer anderen Seite betrachten: Noch nie gab es so viel Luxus in den Bergen. «Kommt diesen Sommer eine Familie zu uns, hat sie den ganzen Massenschlag für sich. Kein Fremder, der links oder rechts von einem schnarcht. Eigentlich ein Vorteil.» 

Nach und nach breitet sich in der inzwischen geheizten Hütte Wärme aus, oder zumindest im Winterraum.

Das Feuer wird auch im Sommer an kalten Tagen für die angenehme Temperatur sorgen.

Unter den Anwesenden herrscht eine gesellige Atmosphäre, genauso wie ich es in meiner Erinnerung an die Berghütten habe. Als Kind verbrachten meine Familie und ich oft die Ferien in SAC-Hütten, darunter auch in der Carschinahütte. «Damals fand ich das Wandern aber nie wirklich toll», erzähle ich in der Runde. Die «Munggen» unterbrechen mit ihren Pfiffen unser Gespräch. Ach, wie schön es hier oben doch ist, denke ich mir. 

Meine Hände schmerzen vom Schneeschaufeln. Und auf den Handflächen sind gleich vier Blasen zu sehen. Ein Sommer als Hüttenwartin? Wohl doch nichts für mich. Als Gast aber schon. Für den gibt es nämlich den tollen Ausblick, die gute Luft, das Bier als Abkühlung und auf der Terrasse Sonnenstrahlen im Gesicht. Was der Gast aber nicht sieht, ist, dass die Gastgeber schon seit mehreren Monaten im Einsatz stehen und dass sich die Kartonschachteln zurzeit nur so türmen, bis alles am richtigen Platz ist.

Die Kisten häufen sich nicht nur im Auto, auch in den Wohnungen der Hüttenwartinnen.
Die Kisten häufen sich nicht nur im Auto, auch in den Wohnungen der Hüttenwartinnen.

«Fehlt noch WC-Papier? Haben wir genug Batterien? Die Schoggi reicht fürs Erste?» Nichts darf fehlen. Die beiden sind Perfektionistinnen. Aber den Gast wird’s freuen und für dessen Wohl geben die beiden alles. Die Sonne ist mittlerweile nicht mehr zu sehen. Die kühle Luft vor der Hütte und das immer weniger werdende Tageslicht erinnert uns daran, dass es Zeit ist ins Tal zu gehen. Ehrlich gesagt, wäre ich gerne noch etwas geblieben, trotz müden und sehr kalten Beinen (die kurzen Hosen waren definitiv ein Fehlentscheid). Aber wie bereits erwähnt: Ein ganzer Hüttensommer? Wohl doch nichts für mich. 

Der Schnee ist mittlerweile auch etwas geschmolzen. Ein positives Zeichen für die Eröffnung. Bis dann steht noch einiges auf dem Programm. Und die To-do-List für die kommende Saison lässt zumindest im Ansatz erahnen, was alles auf Kim Sieber und Sonja Lütolf zukommen wird: Fenster putzen, Betten machen, Staubsaugen, Wischen, WC putzen, Kochen, Gäste bedienen, Buchungen planen, Ein- und Ausgaben im Griff haben. Ein vielfältiger Job, den die beiden diesen Sommer zu meistern haben werden. «Wir haben bis jetzt, also bevor die Saison überhaupt begonnen hat, schon unglaublich viel gelernt. Bereuen werden wir unseren Entscheid schon deswegen nicht», meint Kim. Und Sonja ergänzt: «Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.» Daran ändern auch wenig Schlaf, müde Beine und kalte Hände nichts. 

Und dann ist da noch die Hoffnung – oder viel mehr die Gewissheit: Die Schönheit der Berge wird in diesem Jahr so gefragt sein wie kaum je zuvor. Eigentlich fast nicht zu glauben, dass es dafür ein Virus gebraucht hat. 

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Cool, wie das unsere beiden ehemaligen Mitarbeitenden machen. Wir sind stolz auf sie und werden sie im Sommer sicherlich mal besuchen.

Grüsse aus der Heide!

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