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Die Uno ist weg, die Armut bleibt

Die Inflation setzt den Menschen in Liberia zu. Die Uno hat ihre Mission beendet – humanitäre Hilfe ist aber noch immer bitter nötig.

05.10.19 - 04:30 Uhr
Politik

Um Monrovias Wirtschaft steht es schlecht: Im Dezember 2018 betrug die Inflationsrate laut eines Berichts des «International Monetary Fund» 28,5 Prozent. Die Kaufkraft der Liberianer nimmt ab, sie erhalten für ihr Geld immer weniger. «Als ich 2013 zum ersten Mal nach Liberia kam, kostete ein 20-Kilo-Sack Reis um die 15 US-Dollar», erinnert sich Felix Walz, Gründer der Bowier Trust Foundation Switzerland (BTFS, siehe Infokasten). Heute würden dafür bis zu 50 Dollar verlangt. Weil diejenigen, die einen Job haben, in liberianischen Dollars bezahlt werden, viele Güter aber mit US-Dollars bezahlt werden, wird für die Einheimischen alles teurer. Die Kosten für Grundnahrungsmittel und Benzin fressen oft fast das gesamte Einkommen weg.

Besonders der stetig steigende Preis für Benzin bereitet den Menschen in Liberia Sorge. Die städtische Stromversorgung funktioniert in grossen Teilen Monrovias nicht oder nur sehr instabil. Ganze Viertel werden mit benzinbetriebenen Generatoren versorgt. Ausserdem verdienen sich in der Hauptstadt Tausende ihren Lebensunterhalt, indem sie mit dem Motorrad Taxi fahren. Einer, der das seit zwei Jahren macht, erklärt: «Wir kaufen unsere Motorräder auf Kredit. Damit wir uns die Raten leisten können, legen wir zusammen: So finanzieren zehn Brüder über 18 Monate hinweg die Raten für ein erstes Motorrad, bis dieses abbezahlt ist. Dann ist der Nächste an der Reihe.»

Uno feiert Mission als Erfolg

«Zu wissen, dass eine kleine Oberschicht in Saus und Braus lebt, während die Bevölkerung verarmt, schmerzt», sagt Walz. Eine Mittelschicht sei so gut wie inexistent. «Läden und Restaurants befinden sich grösstenteils in den Händen von Libanesen und Indern, China baut Regierungsgebäude und Strassen und sichert sich im Gegenzug Schürfrechte für Gold und Diamanten. So fliesst der Ertrag ins Ausland ab oder landet in den Taschen von Regierungsmitgliedern oder reichen Industriellen», ist Walz überzeugt.

Das Nachsehen hat die einfache Bevölkerung. Laut eines Berichts des International Children‘s Fund lebten 2017 mehr als zwei Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, 35 Prozent waren unterernährt. Die CIA schreibt in ihrem «World Factbook», dass 2015 knapp die Hälfte der Liberianer lesen und schreiben konnten. Bei den Frauen betrug die Alphabetisierungsrate bloss 32 Prozent. Und Kinder unter 15 Jahren sind da noch nicht einmal berücksichtigt.

Zwei Drittel der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze.

Walz steuert seinen Wagen am ehemaligen Uno-Hauptgebäude vorbei, wo er jahrelang von seinem Büro im dritten Stock aus gearbeitet hat. Der Bau ist von einer riesigen Mauer umgeben. Auf gigantischen Betonplatten prangen die «17 Schritte für eine nachhaltige Entwicklung». Farbenfroh werden Grundsätze wie Gleichberechtigung von Mann und Frau, faire Löhne, ein bewusster Umgang mit Ressourcen, die Bekämpfung von Hunger, die Stärkung der Kinder, eine landesweite Versorgung mit Strom und Wasser, gratis Zugang zu medizinischer Grundversorgung gefeiert. Bloss: Die Uno hat sich Schritt für Schritt aus Liberia zurückgezogen, 2018 wurde die «United Nations Mission in Liberia» (UNMIL) offiziell beendet. Im Bericht ist von einem «Meilenstein» zu lesen, von «durchschlagendem Erfolg» und «herausragenden Reformaktivitäten».

Fehlende Effizienz

Felix Walz bricht bei diesen Aussagen in schallendes Gelächter aus. Seine Wahrheit nach sechs Jahren im Dienst der Uno in Liberia ist eine andere: «Nach Beendigung des Kriegs 2003 hat die internationale Gemeinschaft Millionen an Entwicklungshilfegeldern in Liberia investiert – und leider allzu oft fehlinvestiert. Abgesandte wurden in den besten Hotels einquartiert, immense Budgets wurden von New York aus auf dem Reissbrett verteilt.» Doch hier teilt Walz die Meinung von Community-Leader Michael Pesmith: «Entwicklungshilfegeld, das über die Regierung verteilt wird, landet allerhöchstens zu einem Bruchteil am richtigen Ort.»

Das habe viel mit Korruption zu tun, aber nicht nur: «Wenn ich sehe, dass ein liberianischer Polizeioffizier, der in Ghana seinen Master gemacht hat, nicht fliessend Englisch lesen kann, wundere ich mich nicht, dass Effizienz hier ein Fremdwort ist.» Auch von Projektmanagement, Controlling, Monitoring, langfristiger Planung und ähnlichen Begriffen hätten viele hochrangige Beamte in Liberias Hauptstadt keine Ahnung. «Es fehlt an adäquaten Ausbildungen und vor allem an grundlegenden Strukturen, die für die Führung einer Abteilung, eines Stadtviertels und letztlich eines ganzen Landes von essenzieller Bedeutung sind», urteilt der Schmerkner.

Zusammenarbeit mit HSR und Spital Linth soll ausgebaut werden
Die BTFS konzentriert sich auf drei Tätigkeitsbereiche: Gesundheit, Bildung und Sicherheit. An erster Stelle steht aufgrund der zahlreichen Probleme die Gesundheit: Neben dem Pilotprojekt soll im Verlauf des nächsten Jahres ein weiterer Wassertank mit GDM-Filtersystem gebaut werden. Die Vorbereitungsarbeiten dafür laufen derzeit, zwei Mitarbeiter der HSR sind vor wenigen Tagen aus Liberia zurückgekehrt. Im Bereich Gesundheit strebt die Stiftung eine enge Zusammenarbeit mit dem Spital Linth an. Neben Sachspenden zahlreicher Schweizer Institutionen in der Höhe von mehreren Zehntausend Franken soll ein Ausbildungsprogramm etabliert werden: In einem ersten Schritt reisen Mitarbeitende des Spitals Linth nach Liberia, um in der Benson Klinik und in der Carver Mission Personal aus- und weiterzubilden. Gleichzeitig laufen Vorbereitungen, um liberianische Krankenschwestern für jeweils sechs Wochen am Spital Linth in Uznach auszubilden. «Der Grundgedanke ist immer derselbe», erläutert Walz: «Wir müssen Liberianer und Liberianerinnen mit dem Wissen und den Kompetenzen ausstatten, die notwendig sind, damit sie in ihrer Heimat weitere Fachkräfte ausbilden können.» Ein weiterer Schwerpunkt bildet die Arbeit in den Communitys: «Die Menschen in den Slums schauen zu ihren Community-Leadern auf, einige wenige Leute bestimmen über die Geschicke der ganzen Bevölkerung», erläutert Walz. Zurzeit arbeitet die BTFS mit sechs der 52 Communitys der Hauptstadt zusammen. «Es hat rund zwei Jahre gebraucht, ihr Vertrauen zu gewinnen und sie davon zu überzeugen, dass wir zusammenarbeiten müssen, um die Bevölkerung weiterzubringen.» Regelmässige Treffen und Programme innerhalb der Communitys seien ein Schlüssel zum Erfolg. Ebenfalls im Aufbau befindet sich das «God-Parenting-Programm»: Gönner oder Gönnerinnen erklären sich bereit, für ein Kind in Liberia die Schulgebühren von ungefähr 150 Dollar pro Semester zu übernehmen. «Dabei ist uns wichtig, exakte Kriterien festzulegen, nach denen die Kinder ausgewählt werden. Sie müssen in einem intakten Umfeld leben, einen festen Wohnsitz haben und die Eltern müssen nachweislich nicht in der Lage sein, die Gebühren zu bezahlen», erklärt Walz. Die Unterstützer und Unterstützerinnen würden regelmässig über die Leistungen der Kinder in der Schule informiert und mit Bildern und Informationen über deren Entwicklung auf dem aktuellsten Stand gehalten. 
Die BTFS ist spendenfinanziert. Sachspenden koordiniert Felix Walz (fwalz76@gmail.com), das Spendenkonto kann unter folgender Homepage gefunden werden: www.bowier-trust.org.

Ein Markt mitten im Dreck

Die Strukturlosigkeit, die Walz in der Führungsetage anprangert, zieht sich offenbar durch die ganze Bevölkerung. Anders lassen sich die Szenen, welche sich auf dem Markt im «Red Light»-Viertel abspielen, nicht erklären: Inmitten schlammiger Strassen, riesiger Müllberge, schimmliger Tümpel, die den Männern als Latrinen dienen, und löchrigen Wellblechhütten bieten 15 000 Menschen von Montag bis Samstag Waren aller Art feil. Dass die Lebensmittel im Dreck liegen und Tausende von Fliegen sich auf Fleisch, Fisch und Früchte stürzen, scheint niemanden zu kümmern.

Mitten in einer heillos überfüllten Markthalle befindet sich das rund 15 Quadratmeter grosse Büro des «Internal Board of Investigation». Fünf Personen sitzen im Dunkeln an einem Tisch, Strom gibt es keinen. Von 8 bis 16 Uhr sind sie hier an Markttagen für die Anliegen der 15 000 Verkäufer auf dem Markt zuständig. Sie versuchen, Löcher in den Wellblechdächern auszubessern, die Toiletten zum Laufen zu bringen, Wasser zur Verfügung zu stellen, grundlegende Regeln durchzusetzen und zusammen mit der Polizei Verbrechen aufzuklären. In ihrem Büro fehlt es an Tischen, Stühlen, Schreibzeug.

Ob Marktverkäuferinnen, Geldwechsler, Motorrad-Taxifahrer oder Männer, die mit Schubkarren die Einkäufe anderer für ein kleines Entgelt durch den Matsch karren – alle sagen dasselbe: Das Leben sei hart, die Inflation mache alles noch schlimmer, sie kämpften inmitten vom Armut und Krankheiten ums nackte Überleben.

Täglich sterben Menschen

Felix Walz setzt sich seit nunmehr sechs Jahren mit all diesen Problemen auseinander. Er wurde mit grausamen Ritualmorden konfrontiert, verzweifelte fast an der Unfähigkeit der Menschen, die das Land führen sollten, muss tatenlos zusehen, wie Tag für Tag Menschen sterben, weil niemand sich darum kümmert, dass ihre grundlegenden Existenzbedürfnisse befriedigt werden. Trotzdem reist er jedes Jahr für mehrere Monate nach Liberia, anstatt in seinem Häuschen im Süden Portugals zu sitzen und seine Pension zu geniessen – und lacht dabei häufig, strahlt eine grosse Zufriedenheit aus.

Nicht ans Aufgeben denken

Darauf angesprochen, weshalb er sich Tag für Tag für Liberia einsetze, wird er nachdenklich: «Die Erfahrungen, die ich in meiner Zeit bei der Uno hier gemacht habe, gehen an niemandem spurlos vorbei. Ich konnte mich nicht einfach abwenden und die Menschen sich selber überlassen.» Kraft gäben ihm die unzähligen schönen Begegnungen mit den Menschen in Liberia. «Wenn ich sehe, wie viele Menschen jeden Tag von unserer Wassertankanlage sauberes Trinkwasser holen und mir dankbar begegnen, blüht mein Herz auf», sagt er und kriegt feuchte Augen. «Die Bindung, die ich zu meinen Teammitgliedern und ihren Familien aufgebaut habe, geht extrem tief.» Ausserdem ist er überzeugt, dass seine Arbeit allen Hindernissen zum Trotz nachhaltige Wirkung erzielt: «Seit der Gründung der Stiftung haben wir schon so viel erreicht, das Leben so vieler Menschen ein klein wenig besser gemacht – und vor allem Menschen dazu befähigt, selbstverantwortlich an einer besseren Zukunft für sich und ihre Kinder zu arbeiten.» Die anstehenden Projekte (siehe Infokasten) sollen diese Arbeit fortführen und vertiefen. Für Walz ist klar: «Solange ich die Kraft habe, die Regierung mich und mein Wirken in diesem Land toleriert und meine Familie in Schmerikon hinter mir steht, werde ich nicht aufhören.»

Kommentar: Erfahrungen, die nachhallen
Es ist bereits wieder ein Monat vergangen, seit ich in Monrovia in das Flugzeug gestiegen bin. Nach Ferienreisen hat mich der Alltag jeweils schnell wieder im Griff: die Arbeit, das gewohnte Umfeld, Routine in den Tagesabläufen. Das ist dieses Mal definitiv anders. Die Erfahrungen, die ich in Liberia machen durfte, werden noch lange nachhallen. Ein Mitarbeiter der Bowier Trust Foundation Switzerland (BTFS), Sam, lebt in einem der heruntergekommensten Viertel der Stadt in einem winzigen Zimmer mit seiner schwangeren Frau, zwei Töchtern und einem Baby. Als ich sie besuchte und den kleinen Rufus da liegen sah, auf der einzigen Matratze im Raum, alleine – die Mutter war einkaufen und Sam bei der Arbeit –, hat mich das berührt. Zu wissen, in welches Leben er geboren wurde, welche Herausforderungen und Entbehrungen auf dieses kleine Kind warten, hat mir vor Augen geführt, wie glücklich ich mich schätzen darf, in der Schweiz zu leben. Die Kinder, die zu Tausenden in Liberia aufwachsen und kaum Perspektiven haben, haben dieselben Sehnsüchte, Wünsche und Träume, wie ich sie als Kind in der Schweiz hatte. Nur eben nicht dieselben Möglichkeiten, diesen Träumen nachzugehen. 
Die Entwicklungszusammenarbeit ist eine der am meist diskutierten und am schwierigsten zu lösenden politischen Herausforderungen unserer Zeit. Selbstverständlich masse ich mir nach zehn Tagen in Libera nicht an, die Antwort auf alle Fragen zu kennen. Ich behaupte auch nicht, Stiftungen wie die BTFS seien der einzige gangbare Weg. Ich bin aber überzeugt: Wenn sich Menschen mit Leidenschaft und Herzblut für eine Sache einsetzen, können sie viel bewirken. Felix Walz ist nicht der Einzige, der das vorlebt. In der anstrengenden, herausfordernden Zeit in Liberia habe ich aber auch sehr viele schöne Momente erlebt. Herzlichkeit, Dankbarkeit, das Vertrauen, dass am Ende alles gut kommt, und die Freude an den kleinen Dingen im Leben sind bei den Menschen, die wenig materielle Güter haben, oft sehr ausgeprägt. Für mich ist deshalb klar: Liberia, ich komme wieder! 

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Grosses Kompliment an den Verfasser dieser Berichterstattung, Daniel Graf. Wir von der BTFS Stiftung sind dankbar, dass die Linth Zeitung sich für dieses wertvolle Engagement entschlossen hat. Mit grossartiger Unterstützung von der ROTARY Foundation, Distrikt 2000, sowie Institutionen und privaten Helfern können und werden wir weitermachen und Akzente setzen.

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