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Das Brexit-Drama: Ein Modell für den Schwexit

Andrea
Masüger
02.11.19 - 04:30 Uhr
Britain Brexit Election
Boris Johnson.
KEYSTONE

In seiner Kolumne «Masüger sagts» widmet sich Andrea Masüger aktuellen Themen, welche die Schweiz und die Welt bewegen (oder bewegen sollten). Der heutige Publizist arbeitete über 40 Jahre bei Somedia, zuerst als Journalist, dann als Chefredaktor, Publizistischer Direktor und zuletzt als CEO.

Die spinnen, die Briten. Die ganze Welt lacht über das Brexit-Theater im Vereinigten Königreich, das in seinen Verästelungen niemand mehr versteht. Doch die Schweizer sollten nicht zu selbstgerecht auftreten, denn in einem halben Jahr könnte ihnen ein ähnliches Schicksal blühen.

Die neuesten Nachrichten aus Grossbritannien verfolgt man schon gar nicht mehr, weil die Summe an Winkelzügen, neuen Gesetzen, blockierten Parlamentsdebatten und doppelbödigen Schreiben an die EU-Kommission schlicht nicht mehr zu erfassen sind. Man nimmt einfach zur Kenntnis, dass aufgrund einer 52-Prozent-Mehrheit vom Juni 2016 das Volk den Austritt aus der EU beschlossen hat, dieser bis Ende März dieses Jahres hätte vollzogen werden müssen und nach dreimaligem Verschieben mittlerweile bis Ende Januar des kommenden Jahres erstreckt worden ist. Im Dezember finden zudem Neuwahlen statt, welche das ganze Gezerre wieder auf Feld 1 schieben könnten. Dieser ganze Brexit ist eine einzige Blackbox.

Die Schweiz steht vor einem vergleichbaren Drama. Im kommenden Mai wird über die SVP-Initiative «Für eine massvolle Zuwanderung» abgestimmt, auch Begrenzungsinitiative genannt. Diese verlangt, dass der Bundesrat auf dem Verhandlungsweg versuchen muss, das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU ausser Kraft zu setzen. Dazu hat er ein Jahr Zeit. Gelingt ihm dies nicht, muss er das Abkommen kündigen.

Schon heute ist klar, dass die Regierung vor einem chancenlosen Unterfangen stehen würde. Die EU wird nicht einfach ein einzelnes Abkommen aus dem bilateralen Paket aussetzen, weil dieses Paket (sog. Bilaterale I) nicht aufgeschnürt werden kann. Dies entspricht früheren Abmachungen und einer europäischen Praxis, die nicht nur gegenüber der Schweiz angewandt wird. Auch die Briten mussten erkennen, dass sie keine Extrawürste in Extrazügen gebraten bekommen.

Die Gegner der Begrenzungsinitiative nennen diese deshalb auch weniger schönfärberisch schlicht und einfach Kündigungsinitiative. Denn diese hätte in letzter Konsequenz nach einer Reihe von sinnlosen Verhandlungsrunden und höflichen diplomatischen Notenwechseln die Kündigung des gesamten bilateralen Vertragspakets zur Folge. Dies wäre eine Art Schwexit: Die Schweiz würde ihre Beziehungen zur EU lösen, so wie es die Briten nun seit drei Jahren tun wollen.

Doch was würde dies für die Schweiz bedeuten? Auch hier sind die Parallelen zur grossen Insel frappant: In ersten Linie werden die benachteiligt, die gehen und nicht etwa jene, die bleiben. Die sechs Abkommen des ersten bilateralen Pakets, das die Schweiz mit der EU ausgehandelt hat, sichern uns in den Bereichen Landwirtschaft, Land- und Luftverkehr, Forschung, öffentliches Beschaffungswesen und technische Handelshemmnisse den Zugang zum EU-Binnenmarkt. Die EU ist die grösste Handelspartnerin der Schweiz mit einem Exportvolumen von über 120 Milliarden Franken pro Jahr.

All dies würde man aufs Spiel setzen für eine Schimäre: Die massive Zuwanderung aufgrund des freien Personenverkehrs, welche die Kündigungsinitiative eindämmen will, gibt es gar nicht. Die Nettozuwanderung aus der EU schwankt mit der Konjunktur in der Schweiz und in unseren Nachbarstaaten und hat sich in den letzten Jahren halbiert.

Einen Unterschied zwischen Brexit und Schwexit gibt es allerdings: Das ganze Prozedere würde hierzulande viel radikaler ablaufen. Es gäbe keine endlosen Verzögerungen, keine Sondersitzungen in Brüssel, keine Backstop-Modelle, keine Neuwahlen: Die Schweiz wäre relativ schnell einfach draussen.

Und irgendwann käme dann wohl die «Volksinitiative zur Wiederaufnahme von bilateralen Verhandlungen mit der EU», weil die wirtschaftlichen Folgen doch zu grauslich wären. Dann könnten die Briten für einmal über die Schweizer lachen.

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