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Ausgewachsen

11.11.18 - 04:30 Uhr
PIXABAY

In dieser Kolumne von Pesche Lebrument gehts um nichts Besonderes. Einfach Leben.

Abendhimmel über Einfamilienhäusern, lautes Kinderlachen im ruhigen Quartier. Mein Neffe spielt im Garten. Er tritt den Ball, schlägt das Rad und rollt die Anhöhe hinunter. Er möchte alles gleichzeitig machen. Ich, der kinderlose Onkel beaufsichtige meinen Neffen vom Gartenstuhl aus. Zum ersten Mal hüte ich ihn über Nacht.

Das Mädchen erscheint aus der Hecke und läuft wortlos an mir vorbei. Sie begrüssen sich mit eingeübten Handgesten, so, als wären sie eingeschworene Gangmitglieder: «Was goht ab, Alta?» Alter? Mein Neffe ist gerade mal 8 Jahre alt. Oder 9. Jedenfalls feiert er noch einstellige Geburtstage.

Sie versinken im Spiel. Der Tisch wird zur Burg, der Rechen zum Schwert, die ganze Welt ist ihr Spielplatz. Ob sie mit uns essen wolle, frage ich das Mädchen später. Stumm verschwindet sie in der Hecke.

Auf dem Küchentisch liegt ein Brettspiel. Er zieht mich am Arm, erklärt hastig die Regeln und legt los. In wenigen Zügen besiege ich ihn. Hätte ich ihn gewinnen lassen sollen? Müssen Kinder verlieren lernen?

Er beginnt erneut. Als sich seine zweite Niederlage abzeichnet, beginnt er die Realität zu verändern. Er schiebt seine Figur regelfrei übers Spielfeld. Mit einem Stoss fegt er meine Spielfigur vom Brett. Er quiekt vergnügt, sein Sieg stimmt ihn sichtlich zufrieden.

Ich öffne den gut gefüllten Kühlschrank. Wovon isst er wieviel? Die kleine Hand unter mir krallt sich Schokojoghurt und Eiscreme. Mein Neffe verschlingt unfassbare Mengen. Ich: «Wenn fangt morn d‘Schual a?» Er: «Weiss nit» Wann steht er eigentlich auf ? Zuerst anziehen, dann frühstücken oder umgekehrt? Wie funktioniert ein Kind?

Es bleibt etwas Zeit vor dem Schlafen. Ich setzte den Kleinen vor den Computer.  Er übernimmt das Spielen und Hüten.  Er hält den Kleinen fest wie ein Magnet. Ich habe Pause. Für meinen Neffen ist Gamen das Grösste. Das darf er nicht immer. Ich bin der beste Onkel der Welt.

 «Nurno das Level», sagt er, als ich ihn an die vereinbarte Spielzeit erinnere. Er ist ganz in den Bildschirm gekehrt. Ich fordere ihn auf abzuschalten. Er: «I has grad.» Ich: «Du kasch no Dis ganz Läba lang spiela.» Er: «Was isch, wenn i morn sterba?» Er verhandelt besser als ich, unsere Firma sollte ihn einstellen.

Er ist völlig aufgedreht, will noch spielen, lesen, Spass haben. Er müsste schon längst im Bett liegen. Für ihn hat die Zeit weder Anfang noch Ende – sie ist einfach nur der Raum, in dem er sich bewegt. Kinder ticken anders. Erst sehr viel später gehen die Lichter aus.

Ich schliesse meine Augen. Das ist kein Schlaf, das ist Bewusstlosigkeit, doch der Kleine hält mich wach. Ob er schon schläft? Noch atmet? Ich schleiche auf Zehenspitzen zu seinem Zimmer und linse leise um die Ecke. Er winkt mir lächelnd zu.

Er frühstückt. Unmengen. Warum ist er noch nicht angezogen? Hat er eben wirklich einen halben Liter Rahm getrunken? Ich dachte ich hätte ihm eine Milchpackung hingestellt. Lässt er sich eigentlich immer bedienen?

Es ist, als würde ich einen Wirbelsturm bewachen. Sein Wesen frei von Regeln zeigt mir meine selbst gezogenen Grenzen auf.

Auf dem Weg ins Geschäft fahr ich ihn zur Schule. Beim Aussteigen überreicht er mir ein selbstgemaltes Bild. Er und ich, wir beide im Haus.  Brenne ich? Nein, ich glaube, das sind meine Haare. In die Ecke des Raums hat er einen lachenden Bildschirm gezeichnet. Die beiden Strichmännchen halten sich bei den Händen. 

Ich blicke ihm nach, dieser Anarchie in Kinderkleidern. Durch die Scheibe sehe ich das Mädchen aus der Hecke auf ihn zulaufen. Sie grüssen sich erneut mit eingeübten Gesten. Willkommen im Club. Zutritt nur für Mitglieder. Ich gehöre nicht zur Bande. Alte Kinder gibt es keine.

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