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Zeitzwänge

30.09.18 - 04:30 Uhr
PIXABAY

In dieser Kolumne von Pesche Lebrument gehts um nichts Besonderes. Einfach Leben.

Sie sitzen sich gegenüber. Rund um den runden Tisch. Starre Blicke starren in starre Gesichter. Stille. Sonntag im Altersheim.

Besuchszeit. Ich löse die Bremsen. Mit meiner Grosstante im Rollstuhl verlasse ich die Cafeteria. Ich fahre sie durch die Gänge. Der Weg führt vorbei an hohen Fenstern. Draussen vertreibt sich die Landschaft die Zeit. Ich: «Du waisch, miar fiirend bald din 99zigschta». Sie: «Gell, i bi afangs e alti Schachtle». 

Halt im kleinen Aufenthaltsraum. Aus ihrem Zimmer ganz in der Nähe hole ich ein Fotoalbum. Es macht das Reden leicht. Sie hebt den ledergebundenen Albumdeckel. Dahinter verbirgt sich die Familiengeschichte. Seitenweise Schwarzweissbilder mit weissgezackten Rändern.

Gerne blättert sie in Erinnerungen. «Das isch d’Grosstante», sagt Grosstante. Das abgebildete Kleinkind trägt ihre Gesichtszüge. Das Mädchen hält eine Puppe fest. «S’Bäbeli hät am Fotograf khört. Wia gärn het i au sona Poppa kha». Um ihrer Tochter diesen Wunsch zu erfüllen, hätte ihre Mutter in Heimarbeit monatelang fehlerhafte Fabriktextilien ausgebessert.

Daneben finden sich Bilder vom Kinderspiel in Nachbars Garten: «Dia händ luter Meitli gha. As hät ums verrecke kein Bueb geh.»

Weiterblättern. Bildnotiz «Frauenarbeitsschule 1938»: «Döt bin i 18ni gis. Choche, naie, butze. Mini Mama hät gsait, sie wöll nöd, dass amol an Schwiegersohn chön sägä, ich chön de Hushalt nöd».  Eine Seite weiter trägt sie die Kleider einer Kinderkrankenschwester.

Ein junger Mann in schickem Anzug. Auf einer Blumenwiese lehnt er lachend gegen einen Holzzaun. Lange bleibt ihr Blick auf diesem Bild. «Da isch min Augastern», die Vergangenheit wohnt auch in ihrem Wortschatz. «I han en nöt chöne ha. Ha dia falsch Konfession gha».

Mit jeder Seitenumdrehung schleichen die Jahrzehnte still vorbei. Zu beinahe jedem Foto fällt ihr eine Geschichte ein. Schulzeit, Nachkriegszeit, Hochzeit. Nie war sie Mutter, nie Grossmutter. «Nie han i es Poppeli gha» Es lag an ihr. Am Mann. Es klappte einfach nicht. Es liegt Bedauern ohne Bitterkeit in ihrer Stimme. Bei jedem meiner Besuche spricht sie von den Kindern, die sie nie hatte.

Sie schaut aus dem grossen Fenster. Ich weiss nicht, ob die Zeit da draussen für sie eine Bedeutung hat. Es ist noch hell. Bald gibt es Abendessen.

Ich lege das Album zurück ins Zimmer. Auf dem Bett liegt ihre Puppe, darüber hängt ihr Hochzeitsfoto. Grosstante geriet in die Fänge der Zwänge der Zeit. Sind die Zeichen der Zeit überhaupt erkennbar? Hätte sie ein anderes Leben leben können?

Als ich zurückkehre, sieht sie noch immer aus dem Fenster. Ich frage, ob alles in Ordnung sei. Sie lächelt: «Es chunt, wie’s chunt».  Ich schiebe sie zurück in die Cafeteria. Abschied. Ich komme wieder. Irgendwann. Versprochen.

Schon sitzen sie sich wieder gegenüber. Rund um den runden Tisch. Starre Blicke starren in starre Gesichter. Stille. Sonntag im Altersheim.

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