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Dorfrundgang

09.09.18 - 04:30 Uhr

In dieser Kolumne von Pesche Lebrument gehts um nichts Besonderes. Einfach Leben.

Zwei Gründe führen mich immer wieder zurück ins Dorf meiner Kindheit: Mein Elternhaus und mein Hausarzt. Er betreut mich seit Säuglingstagen.

Ich bin viel zu früh. Es ist strahlend schön. Ich stelle mein Auto beim Elternhaus ab und gehe zu Fuss zur Praxis. Sie liegt unweit meiner alten Schule. Lange bin ich diesen Weg nicht mehr gegangen.

Ganz wie damals gleitet meine Hand über Nachbars Zaun. Im Garten liegen die Spielzeuge anderer Kinder. Nicht nur das Grün, auch der graue Asphalt davor war Tummelplatz der Kinder dieser Strasse. Mit ein paar Kreidestrichen verwandelten wir sie in Kinderzeichnung, Hüpfspiel oder Volleyballplatz. Zusammenspiel zufällig zugezogener Nachbarn.

Die Eltern bestimmten den Lebensmittelpunkt. Mit uns Kindern wuchs der Platzbedarf. Raus aus dem Reihen-, rein ins Einfamilienhaus in diesem ehemaligen Neubauquartier. Jetzt liegt frische Farbe auf gealterten Gebäuden. Die einstigen Neuzuzüger gehören mittlerweile zu den Alteingesessenen.

Mein Schulweg streift den Dorfrand. Häuser sind auf die Felder hinausgewachsen, Bäume wurden an den Waldrand zurückgedrängte. In dieses Dickicht habe ich mich tief hineinbegeben, damit niemand die Glut meiner heimlich gerauchten Zigaretten sah. Ich baute Baumhäuser, staute Bäche, schnitzte Äste zu Waffen und fesselte kichernde Mädchen an Baumstämme. Anarchische Welt im wilden Wald.

Ein beschriftetes Auto steht vor einer Garage. Ich kenne diesen Namen. Er führt jetzt offensichtlich eine Fahrschule, das Enfant Terrible vom Pausenplatz. Auf dem Schulungsfahrzeug steht sein Name in dicken Buchstaben. Von Schulmädchen geliebt, von uns Buben gefürchtet. Das Dorf hat ihn offensichtlich nicht losgelassen.

Als Kind gab es kein Entrinnen. Erst diese Strassen machten es möglich. Auf ihnen erfuhr ich die ganze Evolution der Fortbewegungsmittel: Dreirad, Velo, Töffli. Erst das Auto entfernte mich ganz vom Dorf.

Ich laufe vorbei an der ehemaligen Bäckerei. Finsternis hinter Fenstern. Der Dorfkern liegt jetzt am Dorfrand im Shoppingcenter.

Ich mache einen Umweg hoch zum Kirchenhügel. Ich will mein Dorf von oben sehen. Überblick über die Dächer. Mir sticht das markante Altersheim ins Auge. Ein grosser, grauer Trakt wurde angebaut. Nur der Fluss fliesst unverändert in seinen begradigten Bahnen durch die Landschaft.

Den Kirchhügel hinunter überquere ich den Friedhof. Hier begegne ich meinem alten Mathelehrer. Er liegt neben dem Bäcker. Am Ende begegnet sich die Dorfgemeinschaft wieder - oben auf dem Hügel.

Ich laufe hinab zu den Geleisen. Das Geräusch der sich senkenden Barriere hat sich nicht verändert. Die Schranke zerschneidet das Dorf. Kinder mit Schulthek warten mit mir auf den vorüberfahrenden Zug. Das ist jetzt ihr Dorf. Für sie ist alles, wie es immer schon war.

War ich als Kind ein anderer? War ich unbeschwerter? Auf den ersten Gedanken meine ich es gewesen zu sein. Beim zweiten Hindenken bezweifle ich es. Auch Kinder haben ihre Konflikte.

Mein Schulhaus. Ich mustere das Gebäude. Alles genau wie damals. Ich sehe durch die zugezogenen Lamellenstoren in das Klassenzimmer meines Mathelehrers. Da drin erlernte ich Zahlen und Werte. Stühle stehen umgedreht auf Pulten. Ich glaube es sind dieselben Holzmöbel wie früher. Wenigstens ist der Linoleumboden frisch gewischt.

Der Pausenplatz ist menschenleer. Es ist längst nach Schulschluss. Ich habe ein flaues Gefühl.  Seltsam, ich habe mit dieser Schule und ihren Menschen nichts mehr zu tun und doch reagiert mein Körper. Oder ist es mein Geist? Wozu dient Nostalgie? Das Schulhaus ist nur noch Kulisse, das Leben ist längst ausgezogen.

Es ist Zeit. Arzttermin. Gleich hier ums Eck. Im Wartesaal hängt ein Schreiben an der Wand. Mein Arzt geht in Pension. Bald. Bedauerlich. In absehbarer Zeit gibt es für mich nur noch einen Grund ins Dorf meiner Kindheit zurückzukehren.

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