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Brief an eine Neugeborene

Liebe Paulina. Vor wenigen Tagen bist du auf die Welt gekommen. Du bist 3,2 kg schwer und 52 cm gross. Woher ich das weiss? Ich habe eine Karte bekommen. Deine Eltern haben mir geschrieben.

Südostschweiz
19.08.18 - 04:30 Uhr
Neujahrsbaby Baby Valentin
ARCHIV YANIK BÜRKLI

«OK Boomer» versus «Wa hesch denn du scho erlebt du huere Banane?» Im Blog «Zillennials» beleuchten Vertreterinnen der Generation Z, Nicole Nett und Anna Nüesch, und die Millennials David Eichler und Jürg Abdias Huber in loser Folge aktuelle Themen. Im Idealfall sorgen die vier damit für mehr Verständnis zwischen den Generationen. Minimal hoffen sie, für etwas Unterhaltung, Denkanstösse und den einen oder anderen Lacher zu sorgen.

Liebe Paulina. Vor wenigen Tagen bist du auf die Welt gekommen. Du bist 3,2 kg schwer und 52 cm gross. Woher ich das weiss? Ich habe eine Karte bekommen. Deine Eltern haben mir geschrieben.

Entschuldige, dass mir nichts Besseres einfällt als diese Zeilen, zusammen mit beiliegendem Geschenkgutschein. Übrigens: Die Höhe des Betrags sagt nichts über die Intensität meiner Liebe aus. Das eigentliche Geschenk bist ohnehin du. Verflogen sind die Ängste der erwartungsvollen Mutter, ausgestanden die schlaflosen Nächte des nervösen Vaters. Sie haben Träume für dich.

Da bist du. Angekommen. Punktgenau gelandet aus den Tiefen des Universums. Leben, atmen, die Augen aufschlagen und sehen. Für einen ganzen Moment. Die Zeit läuft nun für dich. Wie das wohl ist, wenn alles noch neu ist? Wenn es noch alles zu entdecken gilt. Wenn nichts ist, wie es scheint.

Entschuldige, du kennst mich ja gar nicht. Ich schreib dich einfach von der Seite an. Aber das wirst du noch oft erleben. Wildfremde Menschen fangen ungefragt an mit dir zu plaudern. Doch sie alle unterliegen deinem Zauber. Hast du’s bemerkt? Als Baby verfügst du über magische Kräfte. Jeder, der dich ansieht, strahlt augenblicklich. Alle heben ihre Stimme und sagen seltsame Sätze wie: «Du, du, du, du. Jo, wär bisch denn du? Wäreliwär?»

Ja, wer bist du eigentlich? Du bist das Wunder. Jedenfalls, solange du noch klein bist. Und du bist der neue Erdenbürger. Obwohl, das mit den ‘Bürgern’ ist so eine Sache: Zeitgleich mit den Wehen werden amtliche Papiere ausgestellt und du unterstehst Gesetzen anderer. Vorerst sind es die Regeln deiner Eltern. Vorschriften der Vorsicht, damit du unbeschadet auf beide Beine fällst. Für sie bist du das ganze Universum. Das Leben auch im anderen.
Apropos Eltern; die beiden Schutzengel an deiner Seite heissen Mama und Papa. Früher hatten sie ganz andere Vornamen. Deine beiden Bediensteten mit den dicken Augenringen sagten mir, das mit dem Sabbern und Schreien klappe schon ganz gut. Du stellst das Leben deiner Eltern ganz schön auf den Kopf. Nur eines bleibt beim Alten: Eine grössere Wohnung brauchen sie nicht. Vorläufig.

Gerade betrachte ich dein Foto auf der Karte. Ich versuche Gesichtszüge deiner Eltern zu entdecken, aber ich glaube, du hast Deinen ganz eigenen Kopf. Was für ein hübsches Gesicht. Ach was, hübsch, hässlich, kaum auf der Welt, wird schon gewertet und geurteilt.

Wie die vielen Geschenke und Gutscheine erreichen dich wohl bald auch zahllose Ratschläge und Lebensweisheiten von Familie, Freunden und Bekannten. Darum zu guter Letzt mein guter Rat: Hüte dich vor guten Ratschlägen. Weise Worte sind schnell zur Hand, nur, wer hat das Leben schon durchschaut? Die Zeit ist zu kurz, ich weiss nur nicht wofür.

Gutes Grosswachsen. Alles Liebe, Onkel* Pesche.

P. S.: In deinem Alter sind alle um dich herum entweder Onkel* oder Tanten.

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