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75 G

08.07.18 - 04:30 Uhr

In dieser Kolumne von Pesche Lebrument gehts um nichts Besonderes. Einfach Leben.

Er sitzt auf 75 G. Mein Sitznachbar ist ein Mann ohne Namen. Ich stelle mich mit «Entschuldigung» vor und deutet mit einer Kopfbewegung auf die beiden freien Flugzeugsitze neben ihm. «Kasch miar d’Täscha do ufa tua?», fragt meine Freundin. Ich suche in der übervollen Gepäckablage eine Nische. Hinter mir drängt eine ganze Passagierkolonne. 75 G steht geduldig neben seinem Sitz.

Meine Freundin manövriert sich zum Platz am Fenster. «Du kasch schu am Fenschter sitza», sagt sie den Kopf über die Schulter gewandt. Zwischen Passagierkolonne und 75 G hindurch blicke ich in ihre mädchenhafte Mine. Ich:  «Schu guat». Sie strahlt. Meine Freundin sitzt immer am Fenster. Ich nehme in der Mitte Platz, schiebe meine Tasche unter den Vordersitz und krame den Gurt unter meinem Hintern hervor. Metall klickt. 75 G sieht mich von der Seite an. Einen kurzen Moment nur, dann blickt er hinunter auf meine Hand. Sie ruht auf der gemeinsamen Armlehne. Er legt seine Hände in den Schoss. Für den Rest des Fluges bleibt die Armlehne in meinem Besitz.

Hügellandschaft unter Uniform. Ich schenke der Sicherheitsvorführung grösste Aufmerksamkeit. Die junge Stewardess pustet in die Schwimmweste und zieht sich die Atemmaske übers makellose Gesicht.

Der Flieger spurtet über die Piste, presst mich ins Polster. Abgehobenes Gefühl. Selbst als Erwachsener staune ich immer noch darüber, dass ein tonnenschwerer Stahlvogel überhaupt fliegen kann. Tragfläche, Luft, Unterdruck. Irgendwie. Man hat’s mir schon x-mal erklärt.  Drehte sich die Welt nur mit von mir erdachten Erfindungen, wäre sie noch nicht einmal in der Steinzeit angekommen.

Steiler Aufstieg. Ich strecke den Kopf an meiner Freundin vorbei zum Fenster. Durchbruch durch den Dunst. Die Sonne scheint immer über der Heimat. Dazwischen liegen oft Wolken. Ab durch den Himmel.

Mit den Servierwagen ziehen Essensgerüche durch die Gänge. Begeisterung im Bauch. Ich klappe das im Vordersitz eingelassene Tablett hinunter. Schon steht die Stewardess neben mir. Sie überreicht meiner Freundin ein Tablett und läuft weiter. 75G scheint genauso verdutzt wie ich. Sie: «Weisch, i han vegetarisch bschtellt».  Mein Magen grummelt. Vorzugsbehandlung für Vegetarier und Laktosier. Ich bin lediglich Glutamatiker. Als sie fertig ist, wird mein Essen mit dem aller anderen serviert.  Heisshunger unter Folie. Beim Öffnen fällt das kleine Salz- und Pfefferset in den Fussraum unter meine Tasche. Kein Weg führt vorbei an Becherhalter und Klapptisch. Fader Flug.  

Zugezogene Fenster. Abgedunkelte Kabine. Die meisten schlafen. Es riecht nach abgestandenen Menschen. Ich betrachte die Karte im Sitzbildschirm mit den eingeblendeten Fluginformationen. Es sind noch Stunden bis zur Landung. 75 G tarnt sich mit Schlafbrille. Sein Kopf liegt geknickt im aufblasbaren Nackenkissen. Er sieht aus, als wäre er tot. Ich muss über ihn drübersteigen. Früher war ich gelenkiger.

Beim Schliessen der Toilettentür geht automatisch ein Licht auf. Hier drin verdichten sich die Fluggeräusche. Luft zischt an Metall vorbei. Es klingt wie in einem tiefen Schacht. Sitzend schiesse ich gerade auf 10'000 Meter bei minus 60 Grad mit 800 km/h durch die Luft. Ich sitze quer zur Flugrichtung. Ich denke, wenn wir jetzt mit einem anderen Flugzeug zusammenstossen würden, wäre das seltsam. In Flugrichtung kann ich der Gefahr ins Auge blicken, aber hier, seitwärts, auf dem Klo?

Wieder steige ich über 75 G. Ich krame den Gurt unter meinem Hintern hervor. Metall klickt. Ich suche meine Schlafmaske. Und die Ohrstöpsel. Ich grabe unter meinen Oberschenkeln, durchsuche mehrmals die Sitztasche vor mir. Vergebens.  Wenigsten stecken die Kopfhörer im Anschluss in der Armlehne. Ich bezwinge die Zeit mit einem belanglosen Film im winzigen Bildschirm.

Fahrwerk ausgefahren, Fensterblenden hochgezogen. Warum kann das Flugzeug nicht wenigstens so lange in der Luft bleiben, bis der Film fertig ist? Ich strecke meinen Hals an meiner Freundin vorbei zum Fenster. 75 G auch. Strahlendes Wetter. Der Weg zur Sonne führt durch Wolken. Das Fahrwerk setzt auf. Die letzten Handys erwachen aus dem Flugmodus. Die Menschen sind von den Sitzen noch bevor die Maschine zum Stehen kommt. 75 G, der Mann ohne Namen drängt im Passagierstrom nach draussen.

Ich steige aus. Unerkannt laufe ich über unbekannten Boden. Hier wohnt das Abenteuer. Ich schaue zurück, betrachte meinen Flieger mit der Flagge am Heck. Gelandet aus gutbetuchtem Land. Hier bin ich ein gern gesehener Gast. Herzlich willkommen, Mann ohne Namen.

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