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Corona-Fazit nach drei Monaten

Hans Peter
Danuser
01.06.20 - 14:00 Uhr
Als grossartig und unverzichtbar erweist sich dabei mein Tablet, ein Wunderding.
Als grossartig und unverzichtbar erweist sich dabei mein Tablet, ein Wunderding.

Hans Peter Danuser und Amelie-Claire von Platen sind im Engadin zu Hause und zeigen uns ihren Blickwinkel. Was bewegt Land und Leute? Wo ist das Engadin stark und wo hinkt es einzelnen Mitbewerbern hinterher? Und was geschieht auf politischer Bühne? Der Blog «Engadin direkt» berichtet persönlich und authentisch.

Eines ist sicher: den März, April und Mai 2020 werden wir nie vergessen. Das kleine Corona-Biest stellt die Welt auf den Kopf und wird uns auf manche Weise noch über Jahre beschäftigen. Jede/r hat die drei Monate anders erlebt: als riesen Stress viele Mütter und Menschen an der 'Gesundheits- Front', als wirtschaftliches Fiasko viele Selbständige, als nackten Existenzkampf Millionen Menschen, 'Sans-Papier' bei uns und Mittellose rund um die Welt – eine Katastrophe!

Manche hatten Glück im ganzen Desaster. Einmal mehr wir Schweizer und andere Zeitgenossen in gut regierten Ländern. Unsere Einschränkungen und Kosten halten sich im Vergleich mit den oberwähnten Einzelschicksalen im Rahmen.

Einen Volltreffer in Sachen Timing landete Daniel Kehlmann, der erfolgreichste deutschsprachige Schriftsteller der Gegenwart. Nach seinem Bestseller 'Die Vermessung der Welt' wurde diesen Winter sein neuer Wurf gefeiert, nicht zuletzt in den USA, wo der Autor derzeit mit seiner Familie lebt. 

Im Buch 'Tyll' begleitet Kehlmann einen Universalgelehrten durch die Zeit der Pest. Das Buch enthält Szenen, die der Autor, seine Leser und Kritiker heute als 'Corona Dialoge' bezeichnen, weil sie die gegenwärtige Situation exakt vorwegnehmen, obwohl der Corona-Begriff beim Verfassen und Erscheinen des Bandes noch völlig unbekannt war.

Allerdings weist Kehlmann heute auch auf gewichtige Unterschiede hin: "Corona hat etwa 0,5 Prozent Sterblichkeitsrate, die Cholera hatte 50 Prozent, die Pest bis zu 70 Prozent.

Der Autor setzte sich mit seiner Familie Mitte März von New York nach Long Island ab und lebt seither in Montauk am Atlantik, das wir von Max Frisch her kennen. Hier findet er durch das Virus 'Zeit zur Einkehr und Besinnung', wie sein fiktiver Schriftsteller in 'Tyll' es formuliert.

Ganz ähnlich ist es uns in Italien ergangen. Da sind einerseits die Angst und Isolation, die Kehlmann so treffend formuliert:  "Aber die Weltlage bedrückt mich doch sehr. Wir befinden uns in einer der traurigsten Krisen der Menschheit. Nicht eine der schlimmsten, aber eine der traurigsten, denn das Heilmittel liegt darin, einander fern zu bleiben."

Andererseits habe ich in meinem Leben noch nie so viel Zeit und Spass mit der Familie gehabt. Ein lockerer, Druck- und terminfreier Tagesrhythmus hat sich eingependelt, ohne Langeweile und ohne einfach rumzuhängen: acht bis neun Stunden Schlaf pro Nacht, Korrespondenz/Büro, Zeitungen, Gartenarbeit, Sport, Alphorn, Erkundung der Halbinsel auf Piraten- und Schmugglerpfaden...  

Als grossartig und unverzichtbar erweist sich dabei mein Tablet, ein Wunderding, das ich mir noch vor zehn Jahren nicht in den kühnsten Träumen vorstellen konnte. Ich war einer der letzten in St. Moritz, die sich persönlich auf Handy und PC eingestellt hatten – zu perfekt waren dazu meine Damen im Vorzimmer, die alles um mich herum organisierten. Tele- und Diktafon reichten mir bestens zur Geschäftsführung. In den Ferien brachte mir der Palm-Express jeweils Plastiksäcke voller Post und Korrespondenz vom Kurverein an den Comersee und nahm meine Diktate und Antworten gleich wieder entgegen für die Bearbeitung im Büro.

Heute ist alles anders, bin ich grosser Fan von Steve Jobs und Bill Gates, kann ich mir ein Leben ohne Tablet nicht mehr vorstellen. Für eine lapidare 'Investition' von zweihundert Franken verbindet es mich auch am abgelegensten Ort mit der Welt, liefert mir täglich meine aktuellen Zeitungen, Mails, Radio- und TV-Sendungen...sowie das ganze Wissen der Welt über Google und Wikipedia – einfach unglaublich! Ich diktiere meine Mails und Blogs direkt ins Tablet und versende sie auch gleich damit.

Voraussetzung und Basis dieser Effizienz ist meine 'gute IT-Seele' Amelie, die wirklich drauskommt und bei gelegentlichen Problemen mit Tablet, Google oder Drucker rasch weiterhilft. Diese 'alles/sofort'-Möglichkeit, dieser Speed, diese Transparenz, Offenheit und Vernetzung waren bis vor wenigen Jahren unvorstellbar und bleiben mir ein tägliches Wunder, auch wenn sie für jeden Normalo heute völlig selbstverständlich sind.

Trotz alledem: Es ist Zeit, dass die Grenzen wieder aufgehen und eine gewisse Normalität einkehrt. Auf der Halbinsel Piona mit wenigen Einwohnern und einsamer Klosteranlage aus dem 12. Jahrhundert machen sich die Wildschweine breit. Eine Nachbarin mailt uns einen Videoclip über eine siebenköpfige Wildschweinfamilie, die ihrem Haus entlang Richtung Rivetta springt, wo wir wohnen.

Und vor zwei Wochen erhielten wir mehrere Anrufe von Bekannten wegen einer Boa Constrictor, die in Villatico ob Colico ausgebügst sei. Wohin wohl? An den Rivetta-Strand natürlich, wo wir uns seither etwas vorsichtiger bewegen...

Es wird hier also in der Quarantäne 'Action' geboten, wenn auch nicht immer nach unserem Gusto. Fazit: Wir freuen uns auf die guten 'alten' Nachbarmenschen, die nun hoffentlich bald wieder aus dem Engadin und anderen Bündner Tälern über Maloja und Splügen in den Süden kommen.

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Lieber Herr Danuser
Herzlichen Dank für die wunderbaren Lesetipps, die Sie uns während der Coronakrise vermittelt haben. Auch ich fühlte mich von Lektüre inspiriert, die mit dem Thema Lockdown zu tun hat und habe mich mit dem Roman von Vincenzo Todiscos "Das Eidechsenkind" auseinandergesetzt. Das war sehr lehrreich.
Herzlichen Dank auch dafür, dass Sie von Ihrem Rückzugsort in Italien Ihre "Community" in der Schweiz ermunternden Beiträgen unerlässlich unterstützt haben. Auch wir freuen uns über Ihre baldige Rückkehr ins Engadin.