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Coronas Leseperlen (II): Das Heptameron

Hans Peter
Danuser
05.05.20 - 04:30 Uhr
BILD WIKIPEDIA
BILD WIKIPEDIA

Hans Peter Danuser und Amelie-Claire von Platen sind im Engadin zu Hause und zeigen uns ihren Blickwinkel. Was bewegt Land und Leute? Wo ist das Engadin stark und wo hinkt es einzelnen Mitbewerbern hinterher? Und was geschieht auf politischer Bühne? Der Blog «Engadin direkt» berichtet persönlich und authentisch.

Was heute die TV- und Internet-Serien sind, waren früher Geschichten-Sammlungen. Die wohl bekannteste ist jene aus «1001 Nacht», noch im 19. Jahrhundert das meistgelesene Buch in Europa nach der Bibel, die letztlich ebenfalls eine Art Geschichtensammlung ist.

Boccaccios Decameron mit 100 Novellen haben wir hier als «Corona Classic» der Weltliteratur vorgestellt, und heute folgt Margarete von Navarra's Heptameron mit seinen 72 Geschichten, das 1559 erschien - gut 200 Jahre nach Boccaccios Werkvorbild.

Die Autorin war Königin von Navarra und Schwester des französischen Königs Franz I., dem Sieger von Marignano gegen die alten Eidgenossen 1515. Damit hat Margarete von Navarra direkt und indirekt mit der Schweizer und Bündner Geschichte zu tun, und die fand damals auch in Italien statt. Nicht mehr unter eigene Flagge, aber mittels zehntausender von Söldnern und Gardesoldaten aus den Schweizer und Bündner Landen.

Hauptakteure dabei waren Frankreich und Österreich/Habsburg, die um die Hegemonie in (West-)Europa kämpften: König Franz I. gegen Kaiser Karl V., beides fähige, best-ausgebildete, ehrgeizige Herrscher, die sich über zwei Jahrzehnte lang bekämpften. Die Franzosen mit vielen Schweizer und Bündner Söldnern, die Habsburger mit deutschen, niederländischen und spanischen Landsknechten. Schweizergarden schützten den französischen König (1497 – 1792) und den Papst (seit1506).

In Italien blühte vor 500 Jahren die Renaissance, gleichzeitig herrschten Krieg, Mord und Totschlag. Karl V. war jener Regent, «in dessen Reich die Sonne nie unterging». 1520 bestätigte Papst Leo X dessen Titel wie folgt: «Wir, Karl der Fünfte, von Gottes Gnaden erwählter römischer Kaiser, immer Augustus, zu allen Zeiten Mehrer des Reiches in Germanien, zu Kastilien» ... plus weitere sieben Zeilen mit Titeln und Ländereien rund um die Welt.

In der Schlacht von Pavia schlugen 1525 Karls Truppen die Franzosen vernichtend. Ein spanischer Grande nahm König Franz I. an der Front gefangen und brachte ihn nach Madrid, wo Karl V. residierte. Margarete von Navarra reiste nach Spanien und überzeugte den Kaiser, ihren Bruder freizulassen. Die Habsburger blieben dafür in Italien und ließen 1527 Rom plündern (Sacco di Roma).

Die Hochblüte der Renaissance hat seither Menschen auf der ganzen Welt fasziniert und in ihren Bann gezogen. Ganz besonders auch die Amerikaner und Briten, deren obligate Grand Tour durch Europa in Rom und Florenz kulminiert, aber auch Mailand und Paris einschließt.

Archetypisch dafür – und damit kommen wir wieder zum Storytelling zurück – ist die mittlerweile zum Kult gewordene Kuckucksuhr-Pointe von Orson Wells im Film «Der dritte Mann» von 1949:

«In den dreissig Jahren unter den Borgias hat es nur Krieg gegeben, Terror, Mord und Blut. Aber dafür gab's Michelangelo, Leonardo da Vinci und die Renaissance.

In der Schweiz herrschten brüderliche Liebe, 500 Jahre Demokratie und Frieden. Und was haben wir davon? Die Kuckucksuhr!»

Diesen Text gibt's weder im Roman noch im Drehbuch von Graham Greene zum Film. Kein Gentleman mit Stil und Kultur hätte je einen so zynischen Stuss geschrieben oder gesagt. Aber das Genie Orson Wells tut's und kann's spontan bei den Dreharbeiten, und es bleibt auch so im Film - einem der besten der Kinogeschichte. Da ist Trump Micky Mouse dagegen. Fake News, ja, aber als Filmkunst vom Feinsten.

Margarete von Navarra hat in den Kommentaren zu ihren 72 Geschichten deren Wahrheitsgehalt stets betont und hochgehalten. Boccaccio ist da lockerer, literarisch dafür eleganter. «Se non è vero è ben trovato» reicht ihm. Entsprechend hat er sich auch bei bekannten römischen und griechischen Autoren Geschichten geborgt.

Und in «1001 Nacht» ist die Wahrheit noch nie ein Thema gewesen. Es sind Märchen, die aus Indien, Persien und Arabien stammen, auch heute noch bestens unterhalten und zur Weltliteratur zählen.

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