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Was wäre,  wenn der Berg stürzen würde?

Über Felsberg, wo der Berg im Moment ruhig ist, und über Brienz/Brinzauls, wo er dies nicht ist.

Bündner Woche
18.04.23 - 11:11 Uhr
Leben & Freizeit
Die Felsen, die noch über Felsberg hängen.
Die Felsen, die noch über Felsberg hängen.
zVg

von Riccarda Hartmann

Er klopft und kündigt sich damit an. Bis die Tür geöffnet wird und er hineinkommt, dauert es eine Zeit. Vielleicht kommt er ganz hinein, vielleicht auch nur mit einem kleinen Schritt, vielleicht bleibt er auch draussen. Aber wer ist er? Der Bergsturz. Er kommt zwar eher den Berg hinunter, als zur Türe herein, doch er kündigt sich ebenfalls an. Mit leichtem Klopfen und Poltern. Mit Verschiebungen des Gesteins. Mit Geröll, das sich löst und den Hang hinunterrollt. Bis der Berg «stürzt» geht es manchmal länger, manchmal Tage, manchmal Wochen, manchmal Monate. Doch was ist, wenn es zu einem Felssturz oder gar einem Bergsturz kommt? Was passiert dann? Welche Massnahmen werden eingeleitet? Welche Möglichkeiten gibt es? Was ist oder wird auf einmal wichtig?

Wenn in Felsberg die Felsen stürzen

Es ist das Jahr 1843, ein Tag im September: Tagsüber stürzen immer wieder Steine und Blöcke ins Tal. In der Nacht, um Mitternacht herum, stürzen dann die Felsen. Sie zerstören einige Ställe und töten ein paar Tiere. Menschen sind nicht körperlich verletzt worden, denn ein Wächter warnte die Personen, die im Gefahrengebiet wohnen, und die ihre Häuser verlassen haben. Wenige bleiben in der Nacht danach in ihren Häusern, viele verbringen die Nacht in Chur oder Domat/Ems. Infolge des Sturzes wird eine Nachtwache eingerichtet, die die Bevölkerung warnen soll, wenn sich am Berg etwas tut, und es scheint, als könne sich bald eine Gefahr anbahnen.

Auch dieser grosse Sturz von 1843 kam nicht unangekündigt. Sich vergrössernde Spalten und Klüfte, herabstürzende Steine und Blöcke wurden bereits Monate zuvor bemerkt und beobachtet. Er hat also angeklopft und sich angekündet.

Felsberg: Der Hang und die rote Zone darunter.
Felsberg: Der Hang und die rote Zone darunter.
Bild zVg

Seitdem ereignen sich immer wieder kleinere oder grössere Felsstürze. Der Geologe zu dieser Zeit, Albert Heim, meinte, dass es in Felsberg wahrscheinlich nie zu einem katastrophalen Ereignis kommen würde, aber der Berg auch nie fertig wäre und die Bewohnerinnen und Bewohner in Unsicherheit halten würde.

«Wenn Steine hinunterkommen, dann bleiben sie in einem bestimmten Perimeter», sagt Peter Camastral, der heutige Gemeindepräsident. Dieser Perimeter wird rote Zone genannt, dort wo absolutes Bauverbot besteht. Und so blieben auch alle Felsbrocken, die im Jahr 2001, dem grössten Felssturz seit 1843, hinunterstürzten, dort in diesem Gebiet liegen.

Seit 1843 hat sich natürlich vieles verändert. Mit der Zeit löste die Technologie die Nachtwache ab. In Felsberg werden drei Arten von Überwachungssystemen angewendet. Eines dieser Systeme besteht aus verschiedenen Messpunkten – genauer aus 24 Prismen, die vom Gemeindehaushügel vermessen werden. Diese Messung dient als Vorwarnung. Bei Verschiebungen gibt es 18 weitere Punkte, an denen nur noch Prismen festgemacht werden müssen und die dann ebenfalls gemessen werden können. Alle zwei Jahre wird zusätzlich präventiv der ganze Felsen mit einem Radar gescannt. Auch werden Spalten gemessen, die viel über die Bewegungen des Felsens aussagen.

«Kommunikation ist das Wichtigste»

Peter Camastral

Was wäre, wenn heute Verschiebungen gemessen werden und es so aussieht, als könne ein grösserer Felssturz bevorstehen? «Dann werden die Überwachungssysteme intensiviert, die Leute werden laufend aufgeklärt und das Gebiet, das in der roten Zone liegt, wird abgesperrt», erklärt Peter Camastral. Gerade weil es manchmal längere Zeit gehen kann, bis etwas geschieht, müssten die Massnahmen ziemlich nahe am Ereignis getroffen werden, meint der Gemeindepräsident. Die Leute würden die ganze Zeit zwar informiert werden, aber zu einer Evakuierung würde es erst kurz vor einem Ereignis kommen. Denn sonst nütze es nichts und nach einer Weile würde niemand mehr daran glauben. «Kommunikation ist das Wichtigste», sagt Peter Camastral. Die Leute auf dem Laufenden halten. Klar und offen über das, was sich am Berg tut, sprechen. Auch nach einem Ereignis. Sobald sich Nachstürze beruhigt haben und es sicher ist, dass es nicht zu einem weiteren Ereignis kommt, dann hören die Massnahmen nicht auf. Vielmehr werden die Leute, vor allem die, die in der Nähe der roten Zone leben, darüber aufgeklärt, was passiert ist, wie viel hinuntergekommen ist und was nun gemacht wird. Peter Camastral wirkt nicht allzu sehr beunruhigt: «In Felsberg muss niemand Angst wegen eines Felssturzes haben.» Und doch, sicher kann man sich nicht sein. Was jedoch sicher ist, ist die Tatsache, dass sich der Berg und die Felsen bewegen. Auch weiterhin. Steine und Geröll lösen sich und poltern hinunter. Eine Gefahr besteht. Vielleicht nicht für das Dorf und die Anwohner, aber für Mensch und Tier, die sich in dem Gebiet aufhalten. Im Moment ist der Calanda ruhig. Ganz anders als an einem anderen Ort in Graubünden. In Brienz, wo die Wahrscheinlichkeit eines Bergsturzes gering, aber nicht ausschliessbar ist.

Wenn in Brienz/Brinzauls der Berg stürzt

Ein Dorf und ein Berg, die seit der letzten Eiszeit, so wird es vermutet, ins Tal rutschen. Früher und für lange Zeit nur einige wenige Zentimeter im Jahr, seit einigen Jahren hat sich die Rutschungsgeschwindigkeit des Dorfes jedoch stark beschleunigt und beträgt heute etwa einen Meter im Jahr. Seit mehr als hundert Jahren bewegt sich auch der Hang, wobei Teile davon momentan sogar bis zu 35 Meter im Jahr rutschen.

Im letzten Herbst hat vor allem die Geschwindigkeit der sogenannten Insel, einer instabilen Felsmasse, und deren Basis zugenommen, wobei die Basis immer mehr ihre Funktion als Stütze der Insel verliert. Es ist gut möglich, dass die Insel abstürzen wird. Was passiert dann? Geologinnen und Geologen gehen von drei Szenarien aus. Welche von diesen eintreffen wird, ist noch unklar.

Er rutscht: Der Hang, der sich weniger schnell bewegt, und die Insel in der Mitte, die sich umso schneller bewegt.
Er rutscht: Der Hang, der sich weniger schnell bewegt, und die Insel in der Mitte, die sich umso schneller bewegt.
Bild Mayk Wendt

Doch wie sehen diese drei Szenarien aus und was wäre, wenn eines dieser Szenarien eintritt? Das Ereignis, das bisher am wahrscheinlichsten eintreten wird – mit geschätzten 60 Prozent Wahrscheinlichkeit –, ist das Szenario Felssturz. Dabei wird die Insel in mehreren Felsstürzen abstürzen. Das Volumen des Abbruchs wird eine entscheidende Rolle spielen in der Reichweite des Sturzes. Es ist wahrscheinlich, dass die Massen den nördlichen, oberen Dorfteil von Brienz/Brinzauls erreichen.

Auch das zweite Szenario, ein Schuttstrom, der mit 30 Prozent Wahrscheinlichkeit eintritt, erreicht das Dorf mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 bis 90 Prozent. Bei einem Schuttstrom handelt es sich um eine Massenbewegung, die mit Metern pro Woche oder pro Tag den Hang hinunter strömt. Ein Schuttstrom bewegt sich zwar deutlich langsamer als ein Bergsturz, ist jedoch genau so zerstörerisch.

Das dritte und am wenigsten wahrscheinliche Ereignis ist ein Bergsturz. Er liegt bei etwa 10 Prozent. Diese Masse hat eine grosse Zerstörungskraft und eine grosse Reichweite. Brienz/Brinzauls würde mit 60 bis 90 Prozent von der Masse erfasst werden. Auch könnte sie bis nach Tiefencastel gelangen.

Je näher ein Ereignis rückt, desto genauer die Vorhersage

Mit der Zeit werden Geologinnen und Geologen genauer sagen können, wie die Insel abstürzt oder abrutscht. Denn der Berg kündigt sich an. Auch der genauere Zeitpunkt wird bekannt. Bis zum letzten Moment wird jedoch unklar bleiben, ob die Insel als Felssturz und in kleineren Portionen, als langsamer Schuttstrom oder als schneller Bergsturz hinunterkommt. Weshalb es auch gut möglich ist, dass Brienz/Brinzauls evakuiert werden muss. Eine solche Evakuierung kann sich über Wochen, gar Monate erstrecken. Da ein grösseres Ereignis, das Brienz/Brinzauls erreichen wird, vorausgesagt werden kann, wird mit einer Evakuierung gerechnet, für die mehrere Tage Zeit bleibt.

Und dann kommen viele Fragen auf: Wie ist es, mehrere Wochen oder Monate nicht mehr zu Hause wohnen zu können? Wohin kann man überhaupt ziehen oder wen kann man fragen? Was muss man mitnehmen, damit der Alltag auch in der provisorischen Wohnung gut gemeistert werden kann? Fragen, die auch erst mit der Zeit kommen.

Viele Fragen also. Betreffend Evakuierung und Bergsturz, der Bedeutung für das Dorf und die Einwohnerinnen und Einwohner. Einige können bereits beantwortet werden, andere erst mit der Zeit und wieder andere muss jede und jeder für sich selbst beantworten. Bleibt also noch eine Frage: Was wäre, wenn der Berg anklopft?

Stürze von Steinen und Felsen einen Hang oder Berg hinab werden Sturzprozesse genannt. Welche gibt es und wie werden sie unterschieden? 

Steinschlag:
Wenn Steine eine Felswand oder einen Hang hinunterkommen, wird das als Steinschlag bezeichnet. Meist geschieht dies durch Erosion aber auch durch Tiere und Menschen, die Steine lostreten. In der Regel sind es Einzelsteine, die eine Geschwindigkeit von bis zu 30 Meter pro Sekunde erreichen. Diese Steine haben dabei einen Durchmesser von weniger als 50 Zentimeter.

Blockschlag:
Wenn von einem Blockschlag die Rede ist, wird von etwas Ähnlichem wie einem Steinschlag gesprochen. Der Unterschied ist, dass die Blöcke grösser sind, mit einem Durchmesser von 0,5 bis 2 Meter oder einem Volumen von unter 100 Kubikmetern.

Felssturz:
Wenn eine Vielzahl von Fels und Gestein hinunterkommt, wird diese Masse als Felssturz bezeichnet. Ein Felssturz kann sich auch in Teilabbrüchen ereignen. Dabei stürzt der Felsen in verschiedenen Phasen nach unten. Das Volumen der Masse liegt dabei bei 100 bis 1 Million Kubikmetern und die Geschwindigkeit liegt zwischen 10 und 40 Metern pro Sekunde.

Bergsturz:
Wenn mehr als 1 Million Kubikmeter Fels abstürzt, bezeichnet man das als Bergsturz. Dieser erreicht eine Geschwindigkeit von mehr als 40 Metern pro Sekunde. Ein Bergsturz kann grosse Flächen betreffen. Das Ereignis am Piz Cengalo bei Bondo im Jahr 2017 ist ein Beispiel für einen Bergsturz.

Weitere Informationen zum Brienzer Rutsch: www.albula-alvra.ch

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