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Voller Böser Churer Seelen

Eine Reportage, bei der wir der Sage des Scaläratobels ein bisschen näher kommen.

Bündner Woche
30.11.22 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Geheimnisvoll und verwunschen: das Scaläratobel.
Geheimnisvoll und verwunschen: das Scaläratobel.
Riccarda Hartmann

von Susanne Turra

Es sind schaurige Geschichten, die man sich in der Stadt über das Tobel erzählt. Das Scaläratobel. Hoch oben im Churer Wald ist es zu finden. Vom Grat des Fürhörnli bis zur Scalärarüfi. Diesem steinigen Bachbett. Dort, wo der Sage nach Hunderte Churer Seelen für ihre üblen Taten büssen.

Dort, wo Schreie, Stöhnen und Gejammer zu hören ist. Immer und immer wieder. So laut, dass es einem durch Mark und Bein fährt. Und so machen wir uns auf, ins sagenumwobene Scaläratobel. Jenes schaurige, furchteinflössende Tobel voller armer, böser und geschändeter Seelen, die unsichtbar und dennoch spürbar sind. Und wir merken schnell: Hier gibt es (fast) kein Entrinnen mehr.

Kalt und unfreundlich bläst der Wind ins Gesicht. Wir ziehen die Kappen tiefer über die Ohren. Und gehen, leicht nach vorne gebeugt, schnellen Schrittes ab Parkplatz Kleinwaldegg in Richtung Campodelsweg. «Scalärarüfi» steht auf dem gelben Wegweiser. Alles paletti. 45 Minuten zu Fuss. Das ist machbar. Finden wir. Immerhin müssen wir diesen Weg nur einmal gehen. So, wie der Samiklaus. Dann, wenn er mit dem Schmutzli und dem Esel und seinem grossen Buch tief versteckt aus dem Fürstenwald die Kinder in der Stadt besucht. Sie lobt. Und tadelt. Ein schönes Sprüchli hört. Und Äpfel, Nüsse und Mandarinen über den Teppichboden rollen lässt. Eine schöne Vorstellung, die uns gleich ein bisschen träumen lässt. Allerdings nicht lange. Der Trampelweg rechts oben bei der grossen Campodelswiese holt uns zurück in die Realität. Kompromisslos. Unsanft. Vorbei am Scheiterhaufen geht es bergauf in Richtung Rote Platte.

Das Licht wirft seltsame Schatten auf den Boden

Es knarrt im Gehölz. Es riecht nach Schnee. Unter den Füssen raschelt das Laub. Das Licht wirft seltsame Schatten auf den Boden. Kein Tier ist zu sehen. Kein Vogel zu hören. Kein Leben zu spüren. Gespenstisch. Unheimlich. Mehr noch. Die langen, schmalen Bäume bewegen sich leicht im Wind. Fast scheint es, als tanzen sie. Lachen sie. Spotten sie. Etwa über uns? Was für ein schrecklicher Gedanke. Die Geister. Wollen sie uns locken oder vertreiben?

Das Verwirrspiel beginnt: Ist es eine skurrile Kugel oder ein Totenkopf? Bild Riccarda Hartmann
Das Verwirrspiel beginnt: Ist es eine skurrile Kugel oder ein Totenkopf? Bild Riccarda Hartmann

Schnell gehen wir weiter. Wärmen uns die Hände in den Jackentaschen. Wo zur Hölle ist nur dieses Tobel? Und dann sehen wir es. Gross und mächtig. Geheimnisvoll und verwunschen. So schlängelt sich das verwitterte, nasse, graue Bachbett mit haufenweise Geröll und Geäst ins Tal hinab. Willkommen in der Hölle. Buchstäblich. An einem Ast hängt eine runde, skurrile Kugel. Oder ist es ein Totenkopf? Auf einen Baumstamm ist eine Zahl mit roter Farbe geschmiert. Oder ist es Blut? Die bösen Träume holen uns ein. Das Verwirrspiel beginnt. Mit ihm die Reise in die Vergangenheit. Und plötzlich können wir sie sehen. Die armen, verwahrlosten, bestraften Seelen. Da ist einmal der Politiker und feine Herr der Obrigkeit. Er hat sich nie an sein Wort gehalten. Und muss sich als Strafe nun die Finger abbeissen. Oder der Steuereintreiber. Er muss das Geld, das er den Armen abgemurkst hat, auf dem Rücken tragen. Eine Last, unter der seine Wirbelsäule zu brechen droht. Oder der Spielsüchtige. Er ist dazu verdammt, seine gezinkten Karten zu essen. Was ihn bis auf seine Knochen abmagern lässt. Oder der Rechtsanwalt. Er hat sich immer nur gestritten. Nun muss er als Strafe seine Zunge essen. Bluttriefend über dem Feuer gebraten. Oder der Wirt. Er hat seinen Wein mit Wasser gepanscht. Nun muss er alles Wasser trinken. Mit geschwollenem Bauch und aufgedunsenem Gesicht sitzt er da. Weint und schreit um Gnade. Und dann sind da noch die Frauen. Auch sie sind im Scaläratobel vertreten. Sie müssen spinnen, weben und den Boden wischen. Warum genau, bleibt an dieser Stelle ungeklärt.

Die schaurige und gruselige Magie dieses Tobels

Und der Samiklaus? Für das Scaläratobel ist er viel zu brav, korrekt und gut. Und so wollen wir später, auf dem Rückweg, ein bisschen im Fürstenwald Ausschau halten nach ihm. Wer weiss. Vielleicht sehen wir ihn ja? Wie auch immer. Es geht gegen Mittag. Und wir verlassen diesen sagenumwobenen Ort wieder. In Richtung Stadt. Wir sind erleichtert. Sind wir doch nochmals glimpflich davongekommen. Dem ganzen Spuk entronnen. Klar. Wir sind ja auch gute Menschen. So hoffen wir. Und doch. Noch lange während des steinigen Rückwegs ist sie spürbar. Die schaurige und gruselige Magie dieses Tobels. Wir werden zurückgehalten. Wie von Zauberhand. Sie wollen einfach nicht loslassen. Uns nicht ziehen lassen. Die Geister. Wollen sie uns locken oder vertreiben? Wir möchten es gar nicht wissen. Wir gehen weiter. Und nach und nach wird es leichter. Verschwindet es. Dieses lautstarke Stöhnen und Gejammer. Die Klagelaute jener böser Churer Seelen.

Nach «Der Geisterspuk im Scaläratobel», ein Churer Spottgedicht von Constanz Ciprian Fischer, 1903, erschienen im Bündner Kalender.

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