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Überbringer der Zeit in der Churer Martinskirche

Hoch über Chur im Kirchturm der Martinskirche tickt die Uhr und läuten die Glocken. Eine Reportage.

Bündner Woche
09.11.22 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Imposant: Fünf Tonnen wiegt die grösste der fünf Glocken.
Imposant: Fünf Tonnen wiegt die grösste der fünf Glocken.
Laura Kessler

von Laura Kessler

Dong, dong, dong. Laut klingen die Glocken der Martinskirche über der Stadt. Zehn Mal. Dann kehrt die Ruhe des Mittwochvormittages zurück. Nur wenige Menschen sind unterwegs. Die, die es sind, haben ein genaues Ziel, gehen quer über den Platz, links und rechts an der Martinskirche vorbei. Sie steht indes da. Schon lange tut sie das. Sie ist eine Konstante, zuverlässig.

Zuverlässig auch, weil sie sich jede Viertelstunde meldet. Laut und klar. Die Glocken der grössten Reformierten Kirche in Chur geben die Zeit an. Tag und Nacht, ganz sicher. Eben zuverlässig. Die Martinskirche ist damit nicht nur in ihrer Erscheinung ein Orientierungspunkt in der Stadt. Sie ist es auch wegen ihres Glockengeläuts.

«Jetzt hat's geschlagen»

Lieni Jäger

Lieni Jäger hält einen blauen Schlüssel in der Hand. «Jetzt hat's geschlagen», meint der Verantwortliche fürs Bauwesen und die Liegenschaften der Reformierten Kirche Chur wenige Augenblicke nach dem Verklingen des 10-Uhr-Schlages. Er lacht, denn ja, es hat geschlagen, es gilt ernst. Der blaue Schlüssel ist jener für den Seiteneingang, jener für den Kirchturm. Es geht entlang der schmalen Wendeltreppe hoch, Stufe um Stufe. 200 an der Zahl. Ziel ist – etwas gar schwülstig ausgedrückt – die Quelle der Zeit. Genauer das Uhrwerk und die darüber liegenden fünf Glocken.

Seit 1919 zeigt sich der Turm der Martinskirche in seiner heutigen Erscheinung mit dem spitzen Dach. Vorher wurde er einigen Renovationen und Veränderungen unterzogen. Auch die Glocken wurden es. Nicht selten, weil die Churer Bevölkerung schlicht nicht zufrieden war mit dem Aussehen von Ersterem oder dem Klang von Letzteren. Am 11. November 1841 beispielsweise lieferten die Gebrüder Theus aus Felsberg eine neue grosse Glocke an, deren Aufzug zwei Tage dauerte. Fünf Jahre später wurden drei Glocken aus Zürich geliefert. Das, weil die Churerinnen und Churer noch immer unzufrieden mit dem Klang waren. Doch auch die neuen Glocken vermochten den Geschmack der Bevölkerung nicht zu treffen. So kam es, dass 1898 fünf neue Glocken den Weg von Felsberg nach Chur fanden. Endlich. Sie klingen bis heute. Die alten klingen seither in der Regulakirche.

Auch der Kirchturm spaltete die Geister

Auch der Kirchturm spaltete die Geister. 1889 wurde die Wächterstube auf dem Turm abgebrochen und durch einen neuen Aufbau ersetzt. Ein Schuss in den Ofen, wurden doch bereits 1917 die Bauarbeiten für die Umgestaltung des Turmes aufgenommen. 1915 spendete Hermann Herold der Kirchgemeinde 10 000 Franken mit der Bedingung, dass noch 1916 mit den Umbauarbeiten begonnen würde. Die Architekten Schäfer und Risch aus Chur nahmen sich der Aufgabe an. Mit Erfolg. Auch der Turm steht bis heute.

«Das ist etwas Meditatives»

Lieni Jäger

Zurück im Heute. In der Mitte des Turmes angekommen, öffnet Lieni Jäger eine Türe. Tick, tick, tick. Das Pendel der Turmuhr schwingt hin und her. Immer im gleichen Takt. Tick, tick, tick. «Das hat etwas Meditatives», findet Lieni Jäger. Die mechanische Uhr stammt aus dem Jahr 1924 und besteht aus vier Teilen. Das erste Werk ist das Schlagwerk für den Viertelschlag. Drei Hämmer schlagen an drei Glocken und zeigen mit einem Dreiklang die Viertelstunde an. Das zweite Werk ist das Uhrwerk. Obwohl es mechanisch funktioniert, wird es jede Minute via Langwellensender aus Stuttgart sekundengenau gerichtet. Die grossen, von aussen sichtbaren Zeiger werden indes immer noch mechanisch mit einem Gestänge angetrieben. Das dritte Werk bildet das Schlagwerk für den Stundenschlag und das vierte Werk ist jenes für die Repetition des Stundenschlages. So, wie das Uhrwerk dasteht, alt, wie aus einer anderen Zeit, erstaunt es, dass dieses nach fast 100 Jahren noch immer zuverlässig funktioniert – und eine über die Stadt hörbare Wirkung erzielt.

Von 1924: Die Turmuhr schlägt auf die Sekunde genau. Bild Laura Kessler
Von 1924: Die Turmuhr schlägt auf die Sekunde genau. Bild Laura Kessler

Der Ton macht natürlich nicht das Uhrwerk, sondern die Glocken. Sie sind einige Treppenstufen weiter oben zu finden. Imposant, mächtig. Die grösste der fünf Glocken wiegt fünf Tonnen. Die anderen vier variieren in Gewicht und Ton. Alle werden von Inschriften geziert, auf der Glocke zwei findet sich zudem das Stadtwappen. Wohl deshalb, weil sie eine besondere Aufgabe innehat. Sie, die Mittagsglocke, läutet werktags stets um 11 und 19 Uhr. Die fünf Glocken sind am hölzernen Glockenstuhl befestigt, der nicht mit dem Kirchturm verbunden ist. «Aus den Schwingungen resultieren solch grosse Kräfte, dass die Mauern mit der Zeit beschädigt werden würden», erklärt Lieni Jäger. Die Kraft zeigt sich dann auch beim Viertelstundenschlag um halb elf. Es empfiehlt sich, die Ohren zuzuhalten.

Es geht noch weiter nach oben. Ein kleiner Austritt gibt den Blick über die Stadt frei. Weit unten plätschert der Brunnen vor der Martinskirche. Nicht nur der Ausblick lohnt sich, sondern auch der Seitenblick. Denn wer da steht, hoch oben über der Stadt, steht mitten im Ziffernblatt und fühlt sich plötzlich ziemlich klein zwischen den bis zu sieben Meter langen Zeigern. Diesen Überbringern der Zeit.

Tritt um Tritt geht es wieder hinab und hinaus auf den gepflasterten Platz. Dong, dong, dong. Elf Mal schlägt's und dann setzt die Mittagsglocke ein. Wie immer um 11 Uhr. Konstant und zuverlässig.

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