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Über den Jordan

Er kennt das Churer Nachtleben wie kaum eine andere Person – im Ausgang mit Roland Alder.
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Bündner Woche
30.06.22 - 17:36 Uhr
Leben & Freizeit
Seit 35 Jahren im Geschäft: Barbesitzer Roland Alder posiert  auf der Plessurbrücke.
Seit 35 Jahren im Geschäft: Barbesitzer Roland Alder posiert auf der Plessurbrücke.
Susanne Turra / Archiv

Von Susanne Turra

Wenn die Journalistin und der Nachtclubbesitzer zusammen in den Ausgang gehen, dann gibt das mit Sicherheit eine spannende Sache. Wobei Letzterer mittlerweile eher als Barbesitzer durchgeht. Doch dazu später. Es ist Freitagabend, 20 Uhr, Mitte Juni in Chur. Das Vergnügen beginnt beim Thailänder an der unteren Reichsgasse. Oder besser gesagt, bei der Thailänderin. So oder so. Das Essen mundet ausgezeichnet. Gurkensalat, Rotes Curry, Gemüseplatte. Und zum Dessert süsser Klebreis und thailändische Mango. Vorzüglich. Besser als Porridge, findet die Journalistin. Ihr Begleiter legt den Kopf in den Nacken und lacht laut. So, wie das Roland Alder oft tut im Gespräch. Auch, wenn er seine Anekdoten zum Besten gibt. Und davon gibt es nicht wenige aus seinem Leben. Immerhin ist er schon bald 35 Jahre im Geschäft. Im Nachtgeschäft. Auch dazu später.

Einfach über die Plessur

Es ist 21.30 Uhr. Nach dem Essen geht es auf einen Abstecher zu Zorri in die nahegelegene «Z-Bar» zum Cüpli. Dann zu «Ela» zum Cocktail. Und ins «Classico» zum Wasser. Roland Alder unterhält sich mit den Geschäftsführerinnen. Allesamt übrigens Damen. Und «hervorragende Geschäftsfrauen», wie er betont. Zwei uniformierte Polizisten schauen auf dem Pfisterplatz vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Alles ruhig. Es ist kurz vor 1 Uhr. Polizeistunde in der Altstadt. Nicht so im Welschdörfli. Dort geht es jetzt erst richtig los. Journalistin und Nachtclubbesitzer machen sich auf in Richtung Plessurbrücke. Vorher inspizieren sie noch kurz die Lage an der Unteren Gasse, dem Ochsenplatz und der Grabenstrasse. Alles paletti. Die Läden sind voll. Roland Alder schaut nach links und rechts. «Ciao Roli», ruft es von hier und dort. Und der Begrüsste grüsst zurück. Bleibt kurz stehen zum Schwatz. Ein paar Infos unter Insidern können nicht schaden. Roland Alder schaut auf die Uhr. «Jetzt gehen wir aber über den Jordan», sagt er und geht voraus. Über den Jordan? Jenen Grenzfluss zwischen dem Königreich Israel und der Wüste? «Eigentlich einfach über die Plessur», verrät Roland Alder und lacht. Ob dahinter tatsächlich das Himmelreich oder das Gelobte Land zu finden sind, bleibt ein Geheimnis. Die Geister werden sich darüber scheiden. Mit Sicherheit ist jenseits des Jordans das Welschdörfli beheimatet. Mit Polizeistunde um 3 Uhr. Und das tönt in der Tat himmlisch.

Polizeistunde um 3 Uhr

So oder so. Auf der Plessurbrücke gibt es jetzt erst einmal ein Fotoshooting. Roland Alder lehnt sich an die Brüstung. Bequem. In Hemd und Jeans. Er lächelt, ist entspannt. Ein Blick auf die Strasse. Die ist mittlerweile für den Verkehr gesperrt. Die Fotos sind im Kasten. Es geht auf einen kurzen Abstecher ins «Mephisto» beim Lindenquai. Small Talk. Cocktail. Bier. Wasser. Geschichten. Insiderwissen. Anekdoten. Auch hier. Und dann geht es ins Welschdörfli. Willkommen im Churer Nachtleben. Dort, wo die Menschenströme auf der Strasse verweilen. Ganze Völkerwanderungen in Richtung Bars und Clubs schlendern. Um sie beim Namen zu nennen: «Cava», «La Morenita», «Belle Epoque», «Twelve», «Dampfschiff», «Vulcano», «High5», «Octopussy», «Olmisches Kober», «Loucy», «Ciao Bella», «Viva», «Cubano», «Selig», «Schall und Rauch», «Arkadash», «Tabaco», «Felsenbar», «Aria», «Torcello». So sieht die Meile aktuell aus. Und früher? Die Geschichte geht weit zurück. Schon Ende der 1880er-Jahre ist im Welschdörfli das Nachtleben vorherrschend. Und warum Welschdörfli? Der Name entsteht aus dem Dorf der Fremden.

Bis 3 Uhr geöffnet: Bei Bedarf wird das Welschdörfli für Autos gesperrt und damit zur Fussgängerzone.
Bis 3 Uhr geöffnet: Bei Bedarf wird das Welschdörfli für Autos gesperrt und damit zur Fussgängerzone.

Das Dorf der Fremden

«Das hat mit den Welschen zu tun», weiss Roland Alder. «Die Welschen waren bei uns die Fremden. Die hat man damals ausserhalb der Churer Stadtmauern angesiedelt. Über dem Fluss.» So oder so. «Eigentlich beginnt damals alles mit der Piano Bar von Hitti Lipp im Franziskaner im ersten Stock», erzählt Roland Alder. «Wir hatten viele Pioniere auf dem Platz Chur.»

Die Stadt der Pioniere

Die Familie Bernasconi-Fontana beispielsweise, die seit jeher die Häuser eingangs des Welschdörfli betreiben und 1948 die «Felsenbar» eröffnen, die bis heute besteht. Dort, wo sich damals schon unsere Nanis und Nenis beim «Schwofen» näher kamen. Im ersten Stock ist das «Wimpy» beheimatet. Dieses wird von verschiedenen Betrieben abgelöst. Und heute nennt sich das Lokal «Ue40 Aria-Bar». Oder mit den Gebrüdern Ursprung, den Gastro-Pionieren schlechthin, die das Restaurant «Zollhaus» mit der «Bierschwemme» führen. Und die 1958 in Chur die erste Pizzeria der Ostschweiz «La Pizza» eröffnen und 1970 aus dem «Rössli» das erste Chinarestaurant der Deutschschweiz machen, das «Mandarin». Oder mit Clemens (Memi) Maissen, der Ende der Siebzigerjahre, von New Yorks weltberühmter Disco «Studio 54» inspiriert, mit dem «Evergreen» die erste Discothek in Chur eröffnet. Unter dem Bahnhof. Hinter den sieben Geleisen. Dazu eine kleine Anekdote: «In der Disco musste der Stromzähler der IBC mit Fünflibern gefüttert werden. Wenn das Geld aufgebraucht war, wurde es stockdunkel. Licht weg. Musik weg. Alles weg. Mit Kerzenlicht und Taschenlampe liess Memi einen Champagnerkübel kreisen und die Gäste mussten Fünfliber spenden. Mit dem Geld fütterte er im Keller den Stromzähler. Und Licht und Musik gingen wieder an und die Party weiter», erzählt Roland Alder. Er legt seinen Kopf in den Nacken und lacht laut.

Zurück zu den Pionieren. Unvergessen bleibt Joggi Ender vom «Surselva/Dampfschiff», der 1967 mit dem «Vulcano» den ersten Stripladen zwischen Lugano, St. Gallen und Zürich eröffnet. Es folgen das «Pin up», das «Tiffany», der «City Night Club», das «Octopussy», das
«Maxim», das «Belle Epoque» und das «Moonlight». Bis auf zwei Betriebe sind heute alle Geschichte.

«Diese Zeiten sind vorbei», betont Roland Alder. «Es ist nicht mehr so, wie es einmal war.» Und so betreibt er heute nur noch zwei Nachtlokale. Die Hausnummern 18 und 20. Das Haus 20 mit dem heutigen «Octopussy» erwirbt er 1992 mit Herbert Bossert, ex P1 Disco, von den Gebrüdern Ursprung. Und das Haus 18 mit dem heutigen «High5» kauft er 1996 von Werner Krättli. Damals noch als «Pin up». Roland Alder renoviert die zwei Häuser. Und am 13. Februar 2019 eröffnet er das «High5». Das Lokal besticht durch viel Holz. Holzboden. Holztische.

Vom Nachtclub zur Musikbar

Der Nachtclub wird zur Musikbar. Der Nachtclubbesitzer zum Barbesitzer. Eingestiegen ins Nachtgeschäft ist Roland Alder aber bereits 1988. Er beteiligt sich bei Herbert Bossert und führt mit ihm zunächst gemeinsam und dann alleine das «Dampfschiff» und das «Vulcano». Später kommen noch verschiedene Diskotheken und Cabarets dazu. Es folgen gute Jahre. Und diese werden in den Neunzigerjahren noch besser, als Chur plötzlich das liberalste Polizeigesetz schweizweit hat.

Das liberalste Polizeigesetz

Nun gibt es im Welschdörfli keine Polizeistunde mehr. Von Freitag bis Montagmorgen um 2 Uhr müssen die Betriebe jeweils nicht mehr geschlossen werden. «Wir haben Gäste gehabt aus Lausanne und Bern», erinnert sich Roland Alder. Das geht zwei Jahre lang gut. Und dann wird das liberalste Polizeigesetz auf einen Schlag zum strengsten Polizeigesetz der Schweiz. «Dank guter Zusammenarbeit mit der Stadt Chur und dem Kanton haben wir aber vor allem auch während und nach der Pandemie eine starke Unterstützung bekommen.» Das möchte Roland Alder betont haben.

Wie auch immer. Roland Alder ist ein waschechter Churer. Ein Masanser. Sein Vater führt dort bis in die Siebzigerjahre das Bürgerheim. In den Sechzigern absolviert Roland Alder die Primarschule in Masans. Er besucht kurzzeitig das Lehrerseminar. Und schliesst später seine Lehre bei der damaligen Schweizerischen Kreditanstalt ab. Und dann wird er Taxifahrer. Im Nachtdienst. Unter dem Rufnamen «Puma22» fährt er von abends um sieben bis morgens um fünf.

Ausgehmeile: Im Churer Welschdörfli wird die Nacht zum Tag.
Ausgehmeile: Im Churer Welschdörfli wird die Nacht zum Tag.

Der Eintritt ins Nachtleben

«Das war mein Eintritt ins Nachtleben», ist er heute überzeugt. Später arbeitet er im Akkord als Bodenleger. «Ich habe unter anderem mitgeholfen, das Schulhaus Türligarten zu verlegen», verrät er nicht ohne Stolz. Dann plötzlich, aus einer Laune heraus, sieht er ein Inserat: Kantonspolizei Graubünden sucht Polizisten. Und dann geht alles sehr schnell. Roland Alder bewirbt sich und wird gewählt. Vom Spezialdienst 3 «Wirtschaftsdelikt» wechselt er später in den Spezialdienst 4 «Drogen und Milieu». Und wird schliesslich stellvertretender Chef der Sittenpolizei. Und dann, Ende 1987, wird das zur Wahrheit, was Roland Alder sich zu jener Zeit selber nie hätte vorstellen können. Er steigt ins Churer Nachtleben ein. Als Nachtclubpionier Joggi Ender ihn damals gefragt habe, habe er gelacht und gesagt: «Spinnst du Joggi? Du weisst doch, wo ich arbeite», erzählt Roland Alder. Und Joggi Ender habe geantwortet: «Ja eben. Genau darum. Das ist perfekt. Du kennst alles. Und du weisst alles.» Gesagt, getan. Der Sittenpolizist wird zum Nachtclubbetreiber. Und er macht seine Arbeit gut. 27 Jahre lange ist er Vizepräsident bei «Asco», dem Verband schweizerischer Konzertlokale, Cabarets, Dancings und Diskotheken. Zusammen mit verschiedenen Frauenorganisationen und Bundesämtern konzipiert er als damaliger Arbeitgeber die Arbeitsverträge für die Tänzerinnen. Eine komplexe und wichtige Arbeit. Mittlerweile beschäftigt Roland Alder noch rund zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in seinen beiden Betrieben.

Fluch und Segen zugleich

«Ich habe langjähriges, gutes Personal», schwärmt er. «Ich vertraue ihnen. Sie wissen, wie der Karren läuft.» Früher war die Nacht sein Tag. Und das habe seine Familie schon zu spüren bekommen, bedauert er. «Es ist ein Fluch und Segen zugleich.»

Heute zieht sich Roland Alder mehr und mehr zurück. Ganz bleiben lassen kann er das Welschdörfli dennoch nicht. So auch heute. Es ist 2 Uhr vorbei. Und Journalistin und Barbetreiber gehen nochmals ein bisschen auf die Gasse. Auf einen Absacker in einen der vielen Nachtbetriebe der Churer Ausgehmeile Welschdörfli.

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