«Wir sind eine Familie hier»
Aus der Jurte des Hotels Shima klingt fröhliches Lachen, auf einer Gitarre wird ein Takt angeschlagen, Singstimmen fallen ein. Es ist ein ganz gewöhnlicher Lagerabend des Plusport-Camps für Sehbehinderte.
Aus der Jurte des Hotels Shima klingt fröhliches Lachen, auf einer Gitarre wird ein Takt angeschlagen, Singstimmen fallen ein. Es ist ein ganz gewöhnlicher Lagerabend des Plusport-Camps für Sehbehinderte.

Die ersten Langlaufcamps hatten 1974 im Goms stattgefunden, und 1984 kam man ein erstes Mal nach Davos. Im Begleiterteam immer dabei war die Davoserin Claudia Buol. «So viele Jahre», sagt sie, ein bisschen erschrocken ob der Summe. «Darum ist es Zeit für mich, aufzuhören.» Zu den gemeinsamen Abenden oder zum Kochen würde sie aber noch immer kommen, sagt sie an den Campleiter Eric Tremp gewandt. Sie sei als junge Turnlehrerin angefragt worden und seither jedes Jahr dabei gewesen, erzählt sie weiter. «Auch so», sagt Buol und breitet die Arme aus, um eine Schwangerschaft anzudeuten. In der langen Zeit habe sie auch während mehrerer Jahre die Gesamtverantwortung für den Kurs gehabt. «Das war anstrengend.» Doch sie hätten auch riesige Feste gefeiert, erinnert sie sich. Noch heute ist für sie das gesellschaftliche, die Gemeinschaft der Motor, jedes Jahr aufs Neue dabei zu sein. Finanzielle Aspekte gab es nie, da alles auf Freiwilligkeit beruht. Dass Buol nun aufhört, liegt in erster Linie daran, dass sie sich den körperlichen Herausforderungen nicht mehr gewachsen fühlt. «Als Begleiter muss man nicht nur sehr konzentriert dabei sein, sondern die Behinderten auch körperlich unterstützen können», erklärt sie. So sind es alleine die Begleiter, die beim Abwärtsfahren bremsen, ihre Schutzbefohlenen halten sich dabei an ihnen oder dem Skistock fest. Das bedingt eine gute körperliche Konstitution und Kraft. Beim Langlaufen im klassischen Stil sind beide meistens nebeneinander unterwegs. Die Begleiterin achtet auf die Umgebung und sagt an, was kommt. In überraschenden Situationen muss sie jedoch auch mal körperlich eingreifen können, um es nicht zu Stürzen kommen zu lassen. Beim Skating sind die beiden Langläufer meistens hintereinander unterwegs, Richtungsanweisungen werden gemäss einem Zifferblatt gemacht, manchmal verstärkt ein Glöckchen am Führenden die Orientierung des Sehbehinderten.

Sicherheit vor allem
Stürze zu vermeiden, ist die wichtigste Aufgabe beim Begleiten. «Stürze sind unweigerlich mit einem Vertrauensverlust verbunden, und das gilt es auf jeden Fall zu verhindern», ergänzt Tremp. Als verantwortlicher Leiter hat er sich «Sicherheit vor allem» auf die Fahne geschrieben. Das beschränkt sich nicht auf die Loipe, sondern ist die Losung für den ganzen Tag. Und auch die Nacht. «Ohne diese Unterkunft wären wir schon lange nicht mehr hier», sagt Tremp und schwärmt davon, wie ideal das Hotel Shima vom Bau her sei. Dazu komme, wie liebevoll und zuvorkommend sie umsorgt würden. «Die Leitung macht für uns alles und noch ein bisschen mehr.» Das alles zu einem Preis, den sich auch Menschen mit einem kleineren Budget leisten könnten. Auch bei Hofmänner Sport würden sie seit Jahren sehr zuvorkommend behandelt. Dem Langlaufgebiet erteilt er deutlich schlechtere Noten: «Vor allem die Strassenübergänge sind eine echte Mühsal. Ich verstehe nicht, dass man dafür nicht schon lange eine Lösung hat.»

An Erinnerungen festhalten
Einen Wermutstropfen im Hotel gibt es dennoch: Es ist nicht vollständig rollstuhlgängig. Auf genau so einen ist aber Marianne Gysi zeitweise angewiesen. Die ehemalige Skilehrerin verlor 2014 durch einen Steinschlag beim Freeriden das rechte Bein, den rechten Arm und die Sehkraft auf dem rechten Auge. «Ich lag sieben Wochen im Koma und befand mich während neun Monaten in Rehabilitation», erzählt sie. «Der Winter ist jedoch meine Jahreszeit, und so versuchte ich, wieder im alpinen Skisport Fuss zu fassen.» Sie habe aber einsehen müssen, dass sie nie wieder das Niveau von vor dem Unfall erreichen würde. «Da behalte ich lieber meine schönen Erinnerungen.» Der Winter liess sie aber nicht los, und so schrieb sie sich im Plusport-Langlauf-Camp ein. «Das ist jetzt acht Jahre her, und möglich war es nur, weil meine Eltern damals noch über eine Ferienwohnung in Davos verfügten.» Doch weil sie eben zeitweise einen Rollstuhl braucht, muss Gysi noch immer separat von der Gruppe nächtigen. «Glücklicherweise fand ich in einem Hotel in der Nähe ein passendes Zimmer.» Die Zeit im Lager mache sie mental stärker. Sie gebe ihr Selbstvertrauen und erlaube ihr, sich an Grenzen heranzutasten und sie auszuweiten, beschreibt sie ihre Motivation, am Langlauf-Camp dabei zu sein. Dann erzählt sie stolz: «Vorgestern war ich auf dem Wolfgang und gestern ganz zuhinterst im Sertig».

Neben der Spur
«In dieser Gruppe habe ich nur drei Leute, die den speziellen Anforderungen gewachsen sind, die sich aus der Begleitung von Marianne Gysi ergeben», nimmt Tremp den Faden wieder auf. Mit einer Prothese anstatt des rechten Beines kann sie zwar gut gehen, im verbleibenden Armstumpf hat sie jedoch keine Funktion. «Wenn mir links etwas passiert, kann ich gar nichts mehr machen», fasst sie ihre Angst zusammen. Entsprechend muss beim Langlaufen stets eine Begleitperson zu ihrer Rechten sein, um notfalls eingreifen zu können. Dabei kann sie durchaus auch mal neben der Spur im Tiefschnee fahren müssen. Doch über die Jahre entwickelten Gysi und ihre Begleiter gemeinsam Praktiken und Hilfsmittel, die ihr die Ausübung des Wintersports dennoch ermöglichen. Und mit jedem Mal auf den Skiern werden die Abläufe sicherer, Automatismen stellen sich ein. Schliesslich werden dann die eben erwähnten Expeditionen möglich.

Deutlich flotter unterwegs
«Was Andres gesagt hat, stimmt nicht», greift Tremp wieder ins Gespräch ein. «Er ist deutlich schneller unterwegs.» Der so Erwähnte lächelt verlegen. Mit einem Sehrest von drei Prozent auf einem Auge kann er gerade noch hell/dunkel unterscheiden und leuchtende Farben wahrnehmen. «Eine Orientierung ist mir aber nicht möglich.» Als Knirps erlernte er auf den Davoser Pisten das Skifahren, gab es aber vor etwa zehn Jahren auf. «Die Pisten sind zu stark befahren, und Rücksichtnahme ist zunehmend ein Fremdwort.» Ganz anders sei das beim Langlaufen, ergänzt Tremp. «Die Leute reagieren ausgesprochen freundlich und zuvorkommend auf uns in unseren leuchtfarbenen Gilets.» Das ist wichtig, wenn Andres Denzler in flottem Tempo daherkommt. «Die Loipen sind wie Schienen. Sie geben Halt und führen», sagt er. Die Begleitperson neben ihm schaut voraus, und manchmal bittet sie langsamere Loipenbenutzer, ihnen Platz zu machen. «Spurwechsel mit Sehbehinderten und Blinden sind möglichst zu vermeiden», erklärt Tremp und grinst: «Mit Andres sind wir zügig unterwegs.» Dieser ist offenbar sportlich und berichtet vom Torball-Team, dem er angehöre. Den Schnee erlebt er vor allem akustisch. «Die Fortbewegung klingt anders, und auch der Zug der RhB erzeugt ein ganz anderes Geräusch», beschreibt er, was Sehende kaum wahrnehmen. Doch dann gibt es auch die Momente, in denen er einfach die Ruhe der Winterlandschaft geniessen wolle. Das sind die Momente, in denen das aus Denzler und seiner Begleiterin bestehende Tandem den Weg zum Junkerboden unter die Skier nimmt und sie den Wald auf sich wirken lassen. Für den Sehbehinderten gibt es aller-dings mehr als einen Grund, nach Davos zu kommen. Da ist einmal die sensationelle Stimmung mit der Gruppe, die in einer grossen Vertrautheit und lebenslangen Freundschaften münde. Doch wenn die Gruppe abreist, wird er noch eine Woche bleiben. «Meine Familie kommt, und wir geniessen noch die vielen Möglichkeiten, die Davos bietet». Zuerst aber mischt er sich wieder unter die Feiernden in der Jurte, wo man inzwischen Gassenhauer aus der Popkultur singt.