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Intensiv und echt

Über die Pflege, wenn es keine Hoffnung auf Heilung mehr gibt, und darüber, wo der Kanton Graubünden diesbezüglich steht

Bündner Woche
10.07.22 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit

Von Cindy Ziegler

Es ist der letzte Dienstag im Juni. Der Himmel ist bedeckt, ab und an scheint die Sonne durch die Wolken. Ein Bild, das zur Stimmung passt. Wir betreten das Churer Fontanaspital. Den Ort, wo Leben beginnt. Aber eben auch endet. Mit dem Lift geht es in den obersten Stock. Vorbei an der Wochenbettstation und den Gebärsälen bis zur Palliativstation. Dort begrüssen nicht nur Blumen und bunte Bilder, sondern auch Cristian Camartin und Verena Gerber. Der leitende Arzt und die Pflegefachfrau vom palliativen Brückendienst haben viel zu erzählen. Vom Lebensende, unserem Umgang damit und der Versorgung in dieser letzten Phase unseres Auf-der-Welt-Seins. 

Jüngst wurde in einer Studie untersucht, wo der Kanton Graubünden in Sachen Palliative Care steht. In Auftrag gegeben hat die Studie der Verein Palliative GR, um einen vollständigen Überblick über sämtliche Angebote und Dienstleistungen der Palliative Care im Kanton Graubünden zu erhalten. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass man in Graubünden diesbezüglich auf einem guten Weg sei. Das empfinden auch Cristian Camartin und Verena Gerber so. «In den letzten 15 Jahren hat sich viel entwickelt. Im Gegensatz zu anderen Kantonen sind wir in Graubünden relativ weit», meint der Mediziner. Die Pflegefachfrau nickt. «Einzig bei der Grundversorgung gibt es noch Lücken. Vor allem fehlt es an Informationen und zum Teil am Interesse», ergänzt sie. Das liege vor allem auch an den langen Distanzen im Kanton, sind sich die beiden einig. 

Wichtige Grundversorgung

Wichtig sei die Grundversorgung durch Hausärztinnen und Hausärzte sowie in den Regionalspitälern aber umso mehr. «Es ist eine Pyramide. Die spezialisierte Palliative Care benötigen vielleicht 10 Prozent aller Sterbenden. Hauptsächlich können diese Prozesse auch in einer Pflegeeinrichtung, in einem Regionalspital oder zu Hause mit Unterstützung bewältigt werden», so Cristian Camartin. Es sei auch so, dass etwa 70 Prozent der Patientinnen und Patienten auf der Palliativstation wieder austreten würden. «Bei uns werden Beschwerden behandelt und abgeklärt, wie es danach weitergeht», erklärt der Arzt. «Und wir vom palliativen Brückendienst schätzen die Situation zu Hause oder in einer Pflegeeinrichtung ein, klären ab, unterstützen und beraten», führt Verena Gerber aus. 

Durch das Fenster, das den Blick vom Besprechungszimmer in den Gang freilegt, sind immer wieder Pflegende in blauem Gewand zu sehen. Sie schieben Wagen mit medizinischem Material hin und her und unterhalten sich leise. Eine Frau trägt einen Blumenstrauss in einer Vase. «Ich würde mir wünschen, dass wir uns früher mit dem Sterben auseinandersetzen und nicht erst dann, wenn wir selbst unmittelbar betroffen sind», meint Verena Gerber im Besprechungszimmer am langen Holztisch. Durch die Brille mit den schwarzen Rändern wirkt ihr Blick ernst, bis sie sanft lächelt. «Wir erleben immer wieder, dass Elementares nicht geklärt ist.» 

Die Palliative Care sei keine sequenzielle Behandlung und sollte nicht erst als letzter Schritt verstanden werden. Vielmehr sei die Palliativmedizin eine begleitende Behandlung. Und ein breites medizinisches Fach. «Es geht nicht nur um die körperliche Krankheitsbehandlung, sondern um viele andere Faktoren, die im Spital sonst oft zu kurz kommen», erklärt der Arzt. Und zählt auf: «Bei uns hat auch das Familiäre, das Soziale, das Psychische und das Spirituelle Platz.» 

Sich auch dann beizustehen

Auf der ganzen Station sind Pusteblumen präsent. Ein Symbol für Vergänglichkeit. Für Abschiednehmen. Aber auch für Leichtigkeit. «Für mich ist das Sterben eine sehr intensive Phase, wo das Leben echt ist. Ähnlich wie beim Lebensanfang. Das Sein hat dann eine besondere Qualität und Intensität», sagt Verena Gerber. Ausserdem sei das Leben dann wahnsinnig echt. Wieder lächelt sie sanft. Cristian Camartin tut es ihr gleich. Das Sterben sei eine Art Geheimnis, weil man nicht alles wisse, erklären die beiden. «Das ist ein Teil der Würde», so die Pflegefachfrau. 

Auf der Station herrscht keine Hektik, sondern angenehme Ruhe. Die Stimmung wirkt gar gelöst. «Sterben ist immer individuell. Meistens passt die Art von uns zu gehen dazu, wie man gelebt hat», weiss Verena Gerber. «Es ist aber kein dramatischer Prozess, sondern ein sehr ruhiger, fliessender. Heute gibt es viele Möglichkeiten, das Sterben so zu gestalten, dass es keine körperlichen Schmerzen beinhaltet», ergänzt Cristian Camartin. Diese Ruhe sei wichtig. «Ich stelle mir vor, dass die sterbende Person dann weniger abgelenkt in ihrem Prozess ist», so die Pflegefachfrau. Aber eben, wissen tue sie es nicht. Sicher sei, dass der Tod uns alle verbinde. «Ich empfinde es deshalb als menschliche Pflicht, einander auch dann beizustehen», schliesst sie das Gespräch. Mit dem Lift geht es wieder am Lebensanfang vorbei. Draussen scheinen feine Sonnenstrahlen durch die Wolken. 

www.palliative-gr.ch

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