×

Grundlagenwerk über Bündner Pflanzen

Im Gespräch mit Ingrid Jansen, Projektkoordinatorin «Flora Raetica» – über ein Jahrhunderprojekt

Bündner Woche
28.03.23 - 16:00 Uhr
Leben & Freizeit
Leberblümchen (Hepatica nobilis): Sie blühen bereits in der Val Müstair.
Leberblümchen (Hepatica nobilis): Sie blühen bereits in der Val Müstair.
Anna-Barbara Utelli

Von Karin Hobi

Erstes Grün spriesst aus dem Boden und bunte Blüten strecken ihre Köpfe vorsichtig gegen den Himmel. Begleitet von bunt durchmischtem Vogelgezwitscher und wärmeren, längeren Tagen. Der Frühling ist da und wird uns in den kommenden Wochen und Monaten mit seiner Vielfältigkeit und seinem Farbenreichtum erfreuen.

Auch der Kanton Graubünden wird in seiner vollen Pracht erblühen. Welche Pflanzenarten hier zu finden sind, wurde vor 91 Jahren in vier Buchbänden dokumentiert. Im Jahre 1932 erschien damals der erste Band der umfangreichen «Flora von Graubünden» von Josias Braun-Blanquet und Eduard Rübel. Bis 1935 folgten drei weitere Bände. Alle damals bekannten Blumen, Bäume und Sträucher des Kantons wurden dokumentiert. Aber inwiefern hat sich die Pflanzenwelt seither verändert? Welche Pflanzen sind selten geworden oder gar verschwunden, welche Arten sind während der vergangenen 100 Jahre höher gewandert, welche verdrängen die einheimische Flora und welche verdienen einen besonderen Schutz?

Um diese Fragen zu beantworten, soll eine neue und aktuelle «Flora» im Kanton Graubünden erscheinen. Die ersten grossen Schritte für das Projekt «100 Jahre danach» sind seit 2022 in vollem Gange. Ein Buch und eine Webseite mit vielen bunten Pflanzen- und Landschaftsbildern sollen es sein. Das Buch wird im Jahr 2032 herauskommen und die aktuelle Verbreitung und Häufigkeit der Bündner Pflanzenarten aufzeigen. «Wie das Buch aussehen soll, steht noch nicht fest», so Ingrid Jansen, die Botanikerin und Organisatorin. «Jetzt sind wir vor allem in der Phase der Datenerfassung.» Innert der nächsten sieben Jahre soll nämlich der ganze Kanton durchforscht werden. Jede Pflanzenart – von Blumen über Bäume, Sträucher und Gräser – wird elektronisch mit den Koordinaten der einzelnen Fundorte erfasst. «Kartieren» oder «Inventarisieren» wird das genannt. Der Kanton wurde dafür in Flächen unterteilt, die von verschiedenen Arbeitsgruppen in ehrenamtlicher Arbeit durchforscht werden.

Das Gremium besteht seit Dezember 2022 aus zwölf Personen und bereits 140 Freiwiliige helfen begeistert mit. «Das ganze Vorgehen ist sehr zeitintensiv und das Team angewiesen auf freiwillige Mithelfende», erzählt Ingrid Jansen. Sie koordiniert die Arbeitsgruppen und organisiert Anlässe, um neu dazugekommene Leute zu instruieren und informieren.

Frühling in Davos: Frühlings-Krokus (Crocus albiflorus). Bild Andreas Gygax
Frühling in Davos: Frühlings-Krokus (Crocus albiflorus). Bild Andreas Gygax

Für dieses Jahr sind bereits drei Kartierwochenenden und eine Tagesexkursion geplant. Wer mitmachen kann? «Alle, die sich für die Natur interessieren und bestenfalls bereits Vorkenntnisse haben», so Ingrid Jansen.

Und wie gehen die Arbeitsgruppen vor? «Wir arbeiten unter anderem mit der
'FlorApp' und dem Online-Feldbuch. Tools, die Info Flora entwickelt hat», erklärt die Biologin. Alle Pflanzenarten werden mit der 'FlorApp' und den exakten Koordinaten der Standorte und Höhenangaben erfasst. Und das auf insgesamt 82 Flächen mit zehn mal zehn Kilometern Seitenlänge, die sich zu mindestens 25 Prozent im Kanton befinden.

Die Idee ist tatsächlich, jede im Graubünden vorkommende Pflanzenart – abgesehen von Gartenpflanzen und Moos – zu erfassen. Und je nach Diversität der Fläche ist das sehr zeitaufwendig und nicht immer ganz einfach. «Selbst wenn man sich sehr gut auskennt in der Welt der Pflanzen, ist das Bestimmen einer Art immer wieder herausfordernd», sagt Ingrid Jansen lächelnd. Wenn beispielsweise eine Art schon lange nicht mehr gefunden wurde, gibt die App eine Rückmeldung wie «Bravo! Die Art wurde seit 1982 nicht mehr gefunden». Oder wenn die App die Lage der bestimmten Pflanzenart anzweifelt, fragt sie nach. «Eine bisher im Gebiet unbekannte Pflanzeart zu finden, ist hingegen ein Erfolgserlebnis», schwärmt Ingrid Jansen.

«Wir rechnen damit, dass wir im Vergleich zu vor hundert Jahren aufgrund der Klimaerwärmung und Landwirtschaftsnutzung Veränderungen erkennen werden», sagt sie. Feuchtgebiete haben abgenommen, es wird gedüngt, vermehrt mit Pestiziden gearbeitet und die Intensität der Ackerbewirtschaftung hat zugenommen. «Klar schmerzt das ein Botanikerherz etwas. Aber das ist eine Entwicklung, die schon über Jahrzehnte im Gange ist», sagt Ingrid Jansen. Die einen Pflanzenarten sind verschwunden. Andere sind neu hinzugekommen oder haben sich ausgebreitet. Die wärmeliebenden Pflanzen nehmen in Tieflagen zu, die an kühlere Temperaturen Angepassten wandern in die Höhe. Und genau diese Entwicklung werde mit der gesamten Datenerfassung gut zu erkennen sein.

Berg-Anemone (Pulsatilla montana): bei Domat/Ems. Bild Andreas Gygax
Berg-Anemone (Pulsatilla montana): bei Domat/Ems. Bild Andreas Gygax
Ingrid Jansen. Bild zVg
Ingrid Jansen. Bild zVg

Ingrid Jansens Motivation für dieses langjährige Projekt ist, etwas für Natur und Gesellschaft sowie die Grundlagenforschung zu tun. Und mit der neuen «Flora» habe man 2023 ein Grundlagenwerk, um mit entsprechenden Massnahmen heute seltene Pflanzenarten gezielt zu erhalten.Aber natürlich soll das Buch für alle Naturliebhaberinnen und –Liebhaber interessant sein.

Ingrid Jansen ist ebenfalls vor Ort und erfasst Daten. «Nächstens sind wir rund um Schiers unterwegs, im April im Misox, im Juli geht's zum Vorderrhein und im August ins Bergell.» Wie sieht es aus mit der Pflanzenwelt in der Stadt? «Auch da finden sich  erstaunlich viele spannende Arten, besonders an den Wegrändern», sagt Ingrid Jansen. Auf das Wort Unkraut reagiert sie nicht sehr erfreut. «Ein Wort, das in Anwesenheit eines Botanikers oder einer Botanikerin nicht gesagt werden sollte», sagt sie augenzwinkernd. Darum, nein, Ingrid Jansen würde ihren Garten nicht jäten. Ihre Begeisterung für die Natur ist unübersehbar. Und welche ist denn nun ihre Lieblingspflanze? «Der rundblättrige Steinbrech mit fünf weissen Blütenblättern und bunten Punkten», sagt sie sofort. «Er ist im Kanton Graubünden gar nicht mal so selten zu finden.» Für einen eigenen Naturgarten habe sie zu wenig Zeit. «Ich schaue mich sowieso lieber in der Natur um.»

Inhalt von buew logo
Kommentieren
Kommentar senden
Mehr zu Leben & Freizeit MEHR