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«Das Alleinsein im Herzen»

Im April kommt der brisante Dokumentarfilm «Unser Vater» von Miklós Gimes in die Kinos. Ihm es damit gelungen, eine dunkle Familiensaga zurückhaltend und einfühlsam aufzuarbeiten.

Conradin
Liesch
31.03.23 - 06:00 Uhr
Leben & Freizeit
Protagonist und Namensgeber des Films ist der ehemalige Priester und spätere Kirchenorgelspieler Toni Ebnöther, der in Saas ein Restaurant führte
Protagonist und Namensgeber des Films ist der ehemalige Priester und spätere Kirchenorgelspieler Toni Ebnöther, der in Saas ein Restaurant führte
Archiv KZ

In den 1950er-Jahren und auch später noch haftete unehelichen Kindern ein schwerer Dünkel an. Dass zudem ein katholischer Geistlicher Nachwuchs zeugte, war eine Ungeheuerlichkeit. Toni Ebnöther, ein attraktiver katholischer Priester, schwängerte in der Provinz der 1950er-Jahre mehrere Frauen, bis ihm der Bischof das Priesteramt entzog.

Er kaufte dann oberhalb Saas ein kleines Gasthaus, dirigierte verschiedene Chöre mit und spielte Kirchenorgel. Für die Öffentlichkeit engagierte er sich vielseitig, war unter anderem Kurvereinspräsident in Saas, initiierte den Bau eines Dorfbrunnens und den Bau der Grüenbödeli-Hütte. Angesichts seiner Verdienste für das Allgemeinwohl und seines geselligen Charakters sah die Öffentlichkeit über seinen «Fehltritt» hinweg – darüber sprach man, wenn schon, nur hinter vorgehaltener Hand. Sein Restaurant «Sunneschy» war das Ziel mancher gemütlichen Familienwanderung an einem Sonntagnachmittag.

Während dieser Zeit hatte er im Prättigau mit einer Frau zwei weitere Kinder, Daniela und Adrian, was ein offenes Geheimnis war. Kurz vor seinem Ableben heiratete er seine damalige Lebenspartnerin und kehrte damit, durch das «Heilige Sakrament der Ehe» wieder in den Schoss der katholischen Kirche zurück.

An Ebnöthers Bestattung 2011 brachte eine seiner Töchter, Monika Gisler, den Ball ins Rollen, als sie sich selbstverständlich in die vorderste Bank setzte und angehalten wurde, sich nach hinten zu begeben – dieser Platz sei ausschliesslich für die Verwandten reserviert. Sie ist jedoch das einzige Kind, welches den Vater zeit seines Lebens getroffen hatte, durfte aber nie darüber reden: «Es ist immer ein Schleier über allem gelegen.». Als sie erfährt, dass sie Geschwister hat, spürt sie sie auf – eine sehr emotionale Suche.

«Ich war halt blöd»

Monikas Mutter lernte Toni im Kirchenchor kennen und erinnert sich: «Er sagte: ‹Komm ein bisschen ins Bett. Dann haben wir wärmer.› Dann legte ich mich halt hin. Er zog mir die Hosen aus. Ich wusste nicht, was passiert. Er ist in mich rein – das tat höllisch weh. Ich sagte: ‹Hör auf, es tut weh.› Dann sagte er: ‹Nicht lange. Es tut dir nachher gut.› Dann zog ich mich an und ging. Ich war halt blöd.» Mit dem Geld, das sie von ihm für eine Abtreibung erhält, kauft sie Wolle.

Die verheiratete Mutter von Christine und Tony ist die einzige, die sich bewusst mit Ebnöther einliess und so zu zwei «Kuckuckskindern» kam. Doch überall wird geschwiegen – ein unhaltbarer Zustand für die Kinder, bis heute. Tony und seine Schwester unterhalten sich im Film darüber und Christine weiss, dass nicht das Alleinsein im Leben das Schlimme ist, sondern das Alleinsein im Herzen.

Lisbeth erfährt während der Dreharbeiten, dass sie gezeugt wurde, als ihre Mutter durch den Priester vergewaltigt wurde. Und auch ihr kam er zu nahe. Sie deutet an, dass es noch weitere Nachkommen geben könnte.

Bischof Joseph Maria Bonnemain, der sich im Film mit den Kindern Ebnöthers trifft und sich entschuldigt – immerhin – gelingt es auch nicht, diese grossen Wunden zu schliessen.

Blicke hinter die Doppelmoral

Regisseur Miklós Gimes, 1950 in Budapest geboren und seit 1956 in der Schweiz, arbeitete ab 1985 beim Tages Anzeiger und erhielt 2000 den Zürcher Journalistenpreis. Zu seinen bisher realisierten Filmen gehören «11 Freunde», «Mutter», «Bad Boy Kummer» und «Wild Fields».

Über die Entstehungsgeschichte des Films erzählt er: «Der Anstoss kam von einer sechzigjährigen Frau aus Dietikon. Ihr Vater sei ein katholischer Priester, erzählte sie, er habe einige Kinder in die Welt gesetzt und die Mütter allein zurückgelassen; die Kirche habe alles gewusst und taten los zugeschaut. ‹Das ist doch ein Filmthema›, sagte sie. Na ja, meinte ich zurückhaltend, über die Sexualmoral der katholischen Kirche ist in den Medien schon viel berichtet worden. Doch irgendetwas machte mich neugierig. Die Frau aus Dietikon brachte ihre Geschwister mit. Sie erzählten alle ihre Geschichten, wie ihre Mütter verführt wurden. Ich schaute in die sechs Gesichter und ich spürte, dass dieses Projekt eine Gelegenheit war, unter die Oberfläche des Schweizer Alltags zu blicken. Hinter den Schein, hinter die Doppelmoral. Roter Faden der Filmgeschichte würde der Priester-Casanova sein, die vier Mütter, die sechs Kinder und ihre Verflechtungen. Doch was mich vor allem reizte, war die einmalige Möglichkeit, Menschen vor der Kamera zu haben, die bereit waren, über Themen zu reden, die man eher meidet. Über Familienangelegenheiten, über Scham und Verletzungen. Mir wurde klar, dass ich den Film machen will.

Das Thema der Kirche, des Zölibats, der Sexualmoral jener Zeit schwingt mit. Aber darüber hinaus transportiert der Film das Klima einer Gesellschaft, die bereits Geschichte ist – aber nur auf den ersten Blick. Denn sie lebt weiter, abgelagert in den Genen, in der Mentalität unseres Landes.»

Miklós Gimes hat es mit dem Film «Unser Vater» geschafft, eine mehr als nur heikle Geschichte so eindrücklich zu schildern, dass nicht bloss die Schuld, sondern vor allem die Menschen im Vordergrund stehen. Wie sie mit ihrem Schicksal umgehen, wird zurückhaltend und äusserst respektvoll aufgezeigt. Grimes ist damit eine beeindruckende Gratwanderung gelungen.

Miklós Gimes: «Unser Vater», 73 Min., läuft ab 6. April in den Kinos. Vorpremiere in Chur, Kino Apollo, am Mittwoch, 5. April, 18.30 Uhr, mit anschliessendem Podium, mit Bischof Joseph Maria Bonnemain, Karin Iten (Fachfrau zur Prävention von Machtmissbrauch, Präventionsbeauftragte Bistum Chur), Monika Gisler und Adrian Meier (Protagonist/innen, Regisseur Miklós Gimes. Der Film wird im Juni im Kulturschuppen Klosters gezeigt.

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