20 Jahre hinter Gittern
Hubi Pazeller erzählt über seine Zeit als Werkstattleiter im Sennhof.
Hubi Pazeller erzählt über seine Zeit als Werkstattleiter im Sennhof.

von Karin Hobi
«Tu das nicht», meinte Hubi Pazellers Vater, als sich sein Sohn 1982 für die Stelle in der Kantonalen Strafanstalt Sennhof beworben hat. Doch der gelernte Kunstschmied hörte nicht auf ihn. Was darauf folgte, waren sozusagen 20 Jahre hinter Gittern. Denn die Arbeit im Gefängnis bedeutet, selbst irgendwie ein bisschen eingeschlossen sein. Trotzdem war es der richtige Entscheid, findet Hubi Pazeller rückblickend.
Mit jungen 22 Jahren bekam er als Werkmeister zwei Straftäter zugeteilt, in den Folgewochen durchschnittlich bis zu sechs Insassen, um ihnen Fachkenntnisse seines gelernten Berufs zu vermitteln. «Besorgung sinnvoller Beschäftigung und Mithilfe bei der Betreuung und Wiedereingliederung der Gefangenen», war eine weitere Zielsetzung in seinem Stellenbeschrieb. Anfangs las er die jeweiligen Akten, um über die Insassen Bescheid zu wissen. «Als ich dann von einem Straftäter im Polizeimuseum die Tatwaffe – ein Messer – gesehen habe, mit dem er jemanden abgestochen hat, bekam ich ein ganz anderes Bild», erzählt er. Ja, Hubi Pazeller wurde vorsichtiger. Er lernte, wachsamer unterwegs zu sein. Und gleichzeitig wollte er einen positiven Arbeitsalltag mit den Straftätern erleben.
Die erste Tat: Die Werkstatt streichen
Und was war eine seiner ersten Taten an seinem Arbeitsort? Die Werkstatt streichen. Zum Staunen einiger Insassen. Aber die Atmosphäre sollte schöner sein und heller, fand er. Zu Beginn waren unter den Gefangenen sieben Insassen, die einen Mord begangen hatten. Bei den meisten Straftaten der Gefangenen handelte es sich aber um Diebstähle. Die Anzahl von Drogenabhängigen wuchs über die Jahre stetig. «Viele davon waren im Winter da, um ein Dach über dem Kopf zu haben», erzählt der ehemalige Werkstattleiter.
Zellenkontrollen. Nach versteckten Gegenständen suchen. Den Aufsehern helfen. Werkstattarbeiten. Und das alles an dem Ort, wo Straftäter ihre Zeit absassen. Das war Hubi Pazellers ganz normaler Arbeitsalltag. Neue Insassen versuchten jeweils, Grenzen auszuloten. Sie versteckten Gegenstände und Drogen. Versuchten Dinge zu schmuggeln. «Manchmal haben sie einander verpfiffen», erzählt er. Er machte aber nie eine grosse Sache daraus. Er kümmerte sich zwar um die Angelegenheiten, hatte aber nie Interesse daran, jemanden zu beschuldigen. Hubi Pazeller war es wichtig, die Insassen nicht permanent als Straftäter anzusehen. Sondern als Menschen, denen er etwas beibringen und mit auf den Weg geben wollte.

Viele der Insassen lebten in einer Traumwelt. Erzählten von ihrem Ferrari. Oder was sie alles machen wollten, wenn sie entlassen seien. Ja, sie redeten von Aktivitäten wie Turnverein oder Männerchor. «Vielleicht wollten sie das in dem Moment tatsächlich. Aber sie schafften es einfach nicht», sagt Hubi Pazeller. Sie hatten so viele Probleme. Und Hubi Pazellers Hoffnung war immer wieder, dass sie sich draussen zurechtfinden und vielleicht ebenfalls in der Metallbranche arbeiten könnten. «Es gab so manchen talentierten Handwerker. Die aber ihr Leben einfach nicht auf die Reihe kriegten», erzählt Hubi Pazeller. Auch nach all ihren Vorhaben und guten Vorsätzen leider nicht.
Mit der Zeit wurde ihm bewusst, dass er auf das «Danach» keinen Einfluss hatte. Die wenigsten Insassen schafften es, in ein normales Leben zurückzukehren. Viele machten sofort so weiter, wie sie aufgehört hatten. Sie hatten nichts in ihrem Leben. Keine Perspektiven, kein gutes Umfeld, keine Integration in die Gesellschaft. Da konnte man noch so viel Hand bieten.
Wenn Hubi Pazeller privat unterwegs war, begegnete er manchmal ehemaligen Insassen. «Ich war zurückhaltend, da ich ja nichts darüber erzählen durfte, wenn ich mit Freunden unterwegs war, aber die meisten Ex-Häftlinge freuten sich, wenn sie mich sahen.» Sie winkten ihm jeweils zu oder riefen sogar lachend «Hey Hubi, ich komme bald wieder».
Hubi Pazeller blättert in seinem Ordner, in dem er viele Erinnerungsstücke aufbewahrt. Er erzählt gerne darüber. Über die Geschichten, die er mit den Insassen erlebt hat. Aber auch von all den Briefen, die sie ihm über die Jahre geschrieben haben. Mit feinsäuberlicher Handschrift. Wenige davon sind keine netten Botschaften. Andere jedoch beinhalten entschuldigende Worte, wenn beispielsweise Arbeitsabläufe nicht funktionierten, wie sie sollten.
Die letzte Schlacht
Einer der Insassen bat ihn in einem Brief darum, seine schwangere Frau anrufen zu dürfen. Was Hubi Pazeller für ihn organisieren konnte. Und ein damals stadtbekannter Drogenabhängiger verfasste eine Geschichte über die Angestellten vom Sennhof. «Die letzte Schlacht» war der dazugehörige Titel. Hubi Pazeller ist ein freiheitsliebender Mensch. Und in einer zehn bis zwölf Quadratmeter kleinen Zelle eingesperrt zu sein, würde ihn verrückt machen. «Leider nahmen sich darin auch einige das Leben», erzählt er. Dann hiess es am Morgen bei Arbeitsbeginn «Bitte helfen beim Abhängen in Zelle fünf».
Es war aber längst nicht alles traurig und schwer. Dafür sorgte Hubi Pazeller. «Es gab schon auch Reibereien. Aber wenn alles gut ging, habe ich ihnen jeweils am Freitag ein Eis oder ein Stück Kuchen geholt», erzählt er. Das wurde von manchen Vorgesetzten nicht gerne gesehen. Aber ihm war ein möglichst normaler Umgang mit den Insassen wichtig. Mit ihnen so zu arbeiten, wie er es auch in einem anderen Betrieb ebenfalls getan hätte. Sie haben auch gesungen während der Arbeit. Und sie lachten und hatten Spass.
Ja, Hubi Pazeller brachte Humor in den Gefängnisalltag. Vielleicht für einen Moment auch etwas Leichtigkeit. «Ich war nicht da, um über diese Menschen zu richten und urteilen. Ich habe sie nicht als Verbrecher angeschaut. Das, was ich wollte, war, mit meiner Arbeitsgruppe einen wertvollen Arbeitstag verbringen.»
Nach 20 Jahren Gefängnis wars dann aber genug. Hubi Pazeller begann eine neue Arbeitsstelle im Grossratssaal und erinnert sich an einen Moment seines ersten Arbeitstags ganz besonders, als er vor dem Eingang eine Schweizer- und eine Bündnerfahne befestigen musste. «Ich ging durch die Türe und stand im Freien. Die Fahnen fest in der einen Hand. Und da wurde mir bewusst, wie frei ich bin. Ein unglaublich starkes Gefühl.»
Im folgenden Audio erzählt Hubi Pazeller von einer Begegnung mit Kriminellen:
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