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Beim bösen Schlund gehts in den Berg

Ab kommender Woche ist der neu erstellte Themenweg zu den Erzstollen von Gulatsch offiziell zugänglich. Ein Besuch der historischen Stätte ist auch eine Reise in die Vergangenheit von Rueun.

Jano Felice
Pajarola
25.06.22 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Mit Fledermausschutztür: Ursula Brändli Capaul, Präsidentin von Rueun Viva, zeigt einen der beiden noch heute begehbaren Bergbaustollen von Gulatsch.
Mit Fledermausschutztür: Ursula Brändli Capaul, Präsidentin von Rueun Viva, zeigt einen der beiden noch heute begehbaren Bergbaustollen von Gulatsch.
Bild Jano Felice Pajarola

Gulatsch. Das Wort verrät schon viel. «Gula», romanisch für «Gurgel» oder auch «Tobel», verschlimmert um die abwertende Endung «-atsch» zum bösen Schlund: Die Stelle in der wilden Val Schmuér zwischen Rueun und Andiast ist kein liebliches Örtchen. Auch der Pfad endet dort abrupt in den Felsen über dem Schmuérbach, der Pfad zu den Minas da Gulatsch. Eine gottverlassene Ecke. Und doch gab es eine Zeit, in der in diesem Gebiet ein geschäftiges Treiben herrschte, ein Treiben, das auch für das nahe Dorf Rueun Folgen hatte, gute und weniger gute. Die Erzstollen im bösen Schlund: Ab 1805 wurden dort Eisen-, Blei- und Silbererz kommerziell abgebaut, durch eine französische Firma. Gut zwei Jahrzehnte lang, dann war Schluss, das Geschäft rentierte kaum. Was geblieben ist, sind zwei Minen im Fels, rund 40 Meter lang die eine, etwa doppelt so lang die andere, beide für viele Jahrzehnte praktisch vergessen.

Ein Märchenwald: Beim hinteren Stollen von Gulatsch endet der Weg in der Felswand über dem Schmuérbach.
Ein Märchenwald: Beim hinteren Stollen von Gulatsch endet der Weg in der Felswand über dem Schmuérbach.
Bild Jano Felice Pajarola

Ursula Brändli Capaul zündet die Lampe ihres Smartphones an. Eine halbe Stunde lang sind wir vom neu erstellten kleinen Parkplatz nach der Abzweigung von der Panixerstrasse ins Tobel hinein gewandert, vorbei an familiengerechten Infotafeln, einem Gedächtnisspielposten, zwei Schatztruhen mit interaktiven Lerninhalten, einem Rastplatz mit gedeckter Sitzmöglichkeit und dem Nachbau eines Haspelzugs, wie er einst gebraucht wurde, um Erzgestein aus tiefen Schächten an die Oberfläche zu holen. Alles Elemente des neu erstellten Themenwegs Minas da Gulatsch, den der von Brändli Capaul präsidierte Verein Rueun Viva zusammen mit der Gemeinde Ilanz/Glion und Surselva Tourismus realisiert hat, mit einem Budget von 150’000 Franken. Jetzt steht das Angebot für Familien und Bergbauinteressierte kurz vor der Eröffnung, ab dem 27. Juni ist der Pfad frei zur Begehung, und auch erste Führungen sind im Juli und August bereits geplant.

Zwist wegen gigantischen Holzverbrauchs

Die Lichtkegel unserer Handyleuchten erhellen den Stollen, wir wandern ins Innere des Bergs, es ist Ilanzer Verrucano, durchsetzt mit Einschlüssen und Adern von Eisenerz, Bleiglanz, Kupfer und etwas Zinkblende. Die Menschen merkten das früh, die erste urkundliche Erwähnung der Minen stammt aus dem späten Mittelalter, man geht aber davon aus, dass in Gulatsch schon zur Römerzeit Erzabbau betrieben wurde, wie Brändli Capaul erzählt. Später, während der kurzen Blütezeit des Minenbetriebs im 19. Jahrhundert, seien bis zu 80 Mann mit der Erzgewinnung beschäftigt gewesen. Eine Verdienstmöglichkeit für die Bauern aus Rueun, aber auch ein Problemherd: Übermässiger Alkoholkonsum der Familienväter, so Brändli Capaul, habe zu Armut und Konflikten daheim geführt.

Gleichzeitig sorgte der gigantische Holzbedarf der Minenbetreiber bei der Verhüttung der Erze zu Zwist mit der damaligen Gemeinde Rueun. Es kam zu Gerichtsprozessen, die sich letztlich länger hinzogen als die gesamte kommerzielle Nutzungsdauer der beiden Stollen – rund 30 Jahre. «Die Inhaber der Bergbaufirmen wechselten ständig, die Vorarbeiter ebenfalls. Niemand konnte zur Rechenschaft gezogen werden», weiss Brändli Capaul. Zuletzt verlor die Gemeinde, die Gerichtskosten blieben an ihr hängen.

Vor dem Vergessen gerettet: Auf den Infotafeln zum Gulatsch-Themenweg sind auch die «Wiederentdecker» der Minen zu sehen, Gion Paul Capaul und sein Enkel Stefan.
Vor dem Vergessen gerettet: Auf den Infotafeln zum Gulatsch-Themenweg sind auch die «Wiederentdecker» der Minen zu sehen, Gion Paul Capaul und sein Enkel Stefan.
Pressebild

172 Jahre nach der Schliessung der Minen von Gulatsch waren es der Einheimische Gion Paul Capaul und sein Enkel Stefan, die dafür sorgten, dass die Stollen nicht komplett in Vergessenheit gerieten. 2003 entdeckten sie anhand alter Dokumente einen weiteren Eingang und machten ihn zugänglich. «Gion Paul hat uns dann vor seinem Tod gebeten, wir sollten uns um Gulatsch kümmern», erinnert sich Brändli Capaul. Der Verein Rueun Viva, der sich seit der Fusion zu Ilanz/Glion für das kulturelle Zusammenleben im Dorf einsetzte, war bereit für das Vermächtnis, das Projekt für den Themenweg wurde lanciert und umgesetzt, auch mit viel Freiwilligenarbeit. Künftig wird sich der Verein zudem am Unterhalt seines bislang grössten Vorhabens beteiligen, wie Brändli Capaul betont.

Im Schein der Lampen offenbaren sich fragile Schönheiten, wir ziehen die Köpfe ein, um sie nicht versehentlich zu beschädigen: Unzählige feine, weisse Stalaktiten hängen von der feuchten Stollendecke, Tropfsteine, «sie wachsen im Schnitt etwa einen Zentimeter in 100 Jahren, je nach den herrschenden Bedingungen», erklärt Brändli Capaul. Über die Wände ziehen sich prächtige orangerote Fahlbänder, Anhäufungen von Erzverbindungen, die auf abbauwürdige Vorkommen hinweisen.

Unerwartete Farben: Sogenannte Fahlbänder im Stollen weisen darauf hin, dass es im Gestein abbauwürdiges Material gab und gibt.
Unerwartete Farben: Sogenannte Fahlbänder im Stollen weisen darauf hin, dass es im Gestein abbauwürdiges Material gab und gibt.
Bild Jano Felice Pajarola

An die Bergbautätigkeit selbst erinnert nur noch wenig, umgestürzte Reste von Stützbalken zum Beispiel. Betreffend Abstützung kann Brändli Capaul aber beruhigen: Ein Geologe hat die beiden Stollen überprüft, sie sind sicher. Ebenfalls notwendig war ein Hochwasserschutzkonzept – sollte der Schmuérbach wirklich enorm viel Wasser führen, könnte es theoretisch in die hintere Mine fliessen. «Deshalb muss man bei Starkniederschlag sofort umkehren», betont Brändli Capaul. Hier gilt ebenfalls: Sicher ist sicher, mag einem ein derartiges Anschwellen des Bachs auch noch so unwahrscheinlich vorkommen.

Türen schützen die Fledermäuse

Und dann ist da noch die Sache mit den Fledermäusen. In den Stollen wurden die stark gefährdeten Kleinen Hufeisennasen nachgewiesen. Beide Minen sind deshalb ab einer bestimmten Stelle mit extra angefertigten Fledermausschutztüren abgesperrt – die seltenen Tiere sollen dahinter so ungestört wie möglich bleiben können; gleichzeitig erlaubt ihnen der vom Fledermausschutz vorgegebene Abstand zwischen den Gitterstäben ungehinderten Durchflug. Für Rueun Viva sei es selbstverständlich gewesen, diese Massnahme umzusetzen, sagt die Präsidentin. Man hat aus der «Not» sogar eine Tugend gemacht: Auf den Infotafeln zum Themenweg nimmt als Leitfigur eine Kleine Hufeisennase entdeckungsfreudige Familien mit nach Gulatsch. Sie heisst Rina Rinolof – nach dem romanischen Namen der Fledermausart, «rinolof pintg».

Mehr als «nur» Bergbau: In den Schatzkisten am Wegrand können Jung und Alt auch Wissenswertes über die Natur entdecken und ausprobieren.
Mehr als «nur» Bergbau: In den Schatzkisten am Wegrand können Jung und Alt auch Wissenswertes über die Natur entdecken und ausprobieren.
Bild Jano Felice Pajarola

Jano Felice Pajarola berichtet seit 1998 für die «Südostschweiz» aus den Regionen Surselva und Mittelbünden. Er hat Journalismus an der Schule für Angewandte Linguistik in Chur und Zürich studiert und lebt mit seiner Familie in Cazis, wo er auch aufgewachsen ist. Mehr Infos

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