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Das Herz auf dem rechten Fleck

Am 24. Juli ist Ruth Gattiker, Pionierin der Herzanästhesie und eine der ersten Professorinnen für Medizin an der Universität Zürich, im 99. Lebensjahr im Spital Davos gestorben.

Davoser
Zeitung
06.08.21 - 14:48 Uhr
Leben & Freizeit
Ruth Gattiker in den Büelen. 
Ruth Gattiker in den Büelen. 
Privat

«Dass ich eine Frau bin, spielt keine Rolle. Ich bin ein Mensch.» Mit dieser Haltung ging die 1923 in Zürich geborene Ruth Gattiker durchs Leben, von klein an. Ihr Vater, Ingenieur bei der Maschinenfabrik Oerlikon, sah das anders. Als sie ein Gymnasium besuchen und Ärztin werden wollte, war er dagegen. Sein Argument: Er würde sich nie von einer Frau behandeln lassen. Sie sollte Sekretärin werden. Doch die junge Ruth war zäh, überwand den Widerstand, machte zunächst die Handelsmatura, dann eine kantonale und am Ende noch heimlich die Eidgenössische Matura, um endlich Medizin studieren zu können. Nach dem Staatsexamen und der Promotion 1952 arbeitete sie wissenschaftlich in Lausanne und kam 1955 an die Schweizerische Pflegerinnenschule mit Frauenspital in Zürich als Assistenzärztin für Chirurgie. Ihre dortige Vorgesetzte Marie Lüscher riet ihr von der Chirurgie ab – sie werde in dem männerdominierten Fach keine Aufstiegschancen haben. Gattiker wechselte Ende der 1950er-Jahre in das damals neue Fach moderne Anästhesie am Kantonsspital Zürich und machte Karriere.

Koryphäe mit grosser Energie

Als der schwedische Herzchirurg Åke Senning 1961 nach Zürich kam, zweifelte er zunächst, dass er mit einer Frau zusammenarbeiten könne. Doch er realisierte schnell, dass er in der zähen, engagierten Anästhesistin eine Mitarbeiterin ohnegleichen fand. Gattiker erlebte mit ihm die Pionierphase der Herzchirurgie in Zürich und war 1969 bei der ersten Schweizer Herztransplantation mit dabei. Im selben Jahr reichte sie ihre Habilitationsschrift «Anästhesie in der Herzchirurgie» ein, lange Jahre ein Standardwerk. Sie war eine Koryphäe auf ihrem Fachgebiet, Senning bezeichnete sie mal als Weltbeste. 1976 wurde sie Titularprofessorin und Leitende Ärztin am Universitätsspital Zürich. Sie war eine der ersten Professorinnen an der Medizinischen Fakultät, erlangte nationale und internationale Anerkennung.

 

1986 wurde Ruth Gattiker pensioniert, aber ihre unbändige Energie liess nicht nach. Sie trieb viel Sport, nahm Klavierstunden, reiste, pflegte einen ausgedehnten Freundeskreis, förderte junge Musikerinnen und Musiker, begann mit 72 Jahren noch ein Studium in Musikwissenschaften und Philosophie an der Universität Zürich und bis achtzig, traf man sie auf Langlauf-Loipen. Als 2016 ihre Biografie «Ruth Gattiker. Pionierin der Herzanästhesie» erschien, trat sie im Fernsehen in der Sendung «Aeschbacher» auf und das Publikum konnte ihre Intelligenz und Schlagfertigkeit bewundern.

Erfülltes Privatleben

Nicht nur beruflich auch privat fand Ruth Gattiker Erfüllung. Mit der Chefchirurgin der Schweizerischen Pflegerinnenschule Marie Lüscher war sie bis zu deren Tod 1991 36 Jahre lang verbunden. Die Freundinnen hatten ein Rustico im Tessin, verbrachten alle Ferien zusammen, reisten viel nach Italien und Griechenland und regelmässig nach Davos zum Skifahren. 1970 bauten sie ein Ferienhaus in den Büelen, am Anfang des Dischmatals. 

Mit 88 Jahren verlegte Gattiker ihren Hauptwohnsitz von Zürich in ihr Ferienhaus und genoss in ihren letzten zehn Lebensjahren noch die nachbarliche Gemeinschaft in den Büelen. Wobei sie zwei bis drei Mal pro Woche mit dem Zug von Davos nach Zürich reiste, um weiterhin Konzerte und die Oper zu besuchen. Mit ihrer legendären Selbstdisziplin, wozu tägliche Pilatesübungen, die gründliche NZZ-Lektüre, Wanderungen, gesunde Ernährung, aber auch immer ein Glas Wein gehörten, hielt sich Ruth Gattiker fit bis ins hohe Alter. Sie war gradlinig, direkt, humorvoll, zuverlässig und geistig rege bis zuletzt. 

Anfang Juli wurde sie immer schwächer. Sie kam ins Spital Davos, wo ihr Herz am 24. Juli 2021 aufgehört hat zu schlagen. Im Mai hatte sie noch mit Nachbarn ihren 98. Geburtstag gefeiert und eigentlich wollte sie demnächst täglich Konzerte am Davos Festival besuchen. «Es ist schon schade, jetzt zu sterben», sagte sie einige Tage vor ihrem Tod. Als klar wurde, dass man ihr medizinisch nicht mehr helfen konnte, bewältigte sie ihre letzte kurze Strecke vorbildhaft und bewusst. Sie findet ihre letzte Ruhe auf dem Waldfriedhof zusammen mit Marie Lüscher. Die ersten Lebensgefährtinnen, die dort ein Grab teilen werden – Pionierinnen bis zuletzt. 

Nachruf von Denise Schmid, Autorin von «Ruth Gattiker. Pionierin der Herzanästhesie»  

 

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