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Politischer Mord?

9. Dezember 1936. Langsam, fast schon träge, kämpft sich die Sonne hinter den Berggipfeln hervor, lässt ihre wärmenden Strahlen über das Tal gleiten und bringt die dünne Schneeschicht zum Glitzern.

Davoser
Zeitung
13.05.21 - 10:38 Uhr
Leben & Freizeit
Das Bild – eine Karikatur des Satiremagazins «Nebelspalter»– zeigt, wie Gustloff der Schweiz auf der Nase herumtanzt. Die Karikatur wurde vor dem Attentat veröffentlicht.
Das Bild – eine Karikatur des Satiremagazins «Nebelspalter»– zeigt, wie Gustloff der Schweiz auf der Nase herumtanzt. Die Karikatur wurde vor dem Attentat veröffentlicht.
Bild zVg/Nebelspalter

Schon jetzt, am frühen Morgen, wuseln die Städter betriebsam durch die Gässlein – schliesslich müssen die Buden für den bevorstehenden Andreasmarkt errichtet, Essen und Getränke eingeholt und allerlei Arbeiten verrichtet werden. Alles verläuft in geregelten Bahnen – nichts deutet auf das bevorstehende Grossereignis hin, das die Alpenstadt in den nächsten Tagen in Atem halten und ihren Namen in die weite Welt hinaustragen wird. Doch was war geschehen? Was war von solch politischer Brisanz, dass sich in Chur vor dem 9. Dezember über 150 Pressevertreter aus aller Welt zusammenfanden und sich das Hotel «Steinbock», das Post- und das Grossratsgebäude sogar dazu gezwungen sahen, Telefonzellen zur verbesserten Kommunikation einzurichten?

4. Februar 1936 in Davos

Um dies zu verstehen, muss ein Blick auf jene Ereignisse geworfen werden, die sich am 4. Februar 1936 in Davos zutrugen. An diesem Tag machte sich David Frankfurter, ein 26-jähriger Medizinstudent aus Bern, der bereits seit Ende Januar in Davos ausharrte, nach längerem Zögern auf den Weg zum Wohnort des nationalsozialistischen Gauleiters Wilhelm Gustloff. Kurz vor 20 Uhr wurde Frankfurter von Hedwig Gustloff, der Ehefrau des Gauleiters, hereingebeten und dazu angehalten, im Arbeitszimmer Platz zu nehmen. Als Gustloff wenige Minuten später zu dem ihm unbekannten Gast stiess, richtete Frankfurter eine Pistole auf den Gauleiter und gab vier Schüsse ab. Anschliessend überstellte er sich freiwillig der Davoser Polizei. Nach den Gründen für seine Tat befragt, gab Frankfurter, selbst Jude und vor einigen Jahren in die Schweiz emigriert, an, dass er etwas gegen die Gräueltaten der deutschen Staatsform habe tun müssen.

In den darauffolgenden Wochen und Monaten wurde die Tat in den nationalen und internationalen Medien breit diskutiert. Während sich die deutschen Medien in ihrer Verherrlichung des dienstältesten Auslandsgruppenführers Gustloff gegenseitig zu übertreffen versuchten, übte sich die Schweizer Presse darin, die Hintergründe der Tat herunterzuspielen, um so eine Politisierung der Ereignisse zu vermeiden. Schnell sollte sich zeigen, dass das nationalsozialistisch indoktrinierte Deutschland nicht gewillt war, den Fall auf sich beruhen zu lassen. Immer häufiger wurden Pressestimmen laut, die von Hintermännern, der «Schweizer Hetzpresse» und von einer Beteiligung der Schweiz an der in ihren Augen vom Widerstand organisierten Tat sprachen.

Scheinwerferlicht auf Bündner Justiz

Unter diesen Voraussetzungen wuchs der Druck auf die Bündner Justiz. Sie war es, die sich im Prozess gegen David Frankfurter, der am 9. Dezember 1936 einsetzte und bis zum 15. Dezember andauerte, von ihrer besten Seite zeigen und nach Möglichkeit alle politischen Gesichtspunkte ausblenden sollte, um die Neutralität der Schweiz gegenüber ihrem übermächtigen Nachbarn zu wahren.

Insofern muss die Stimmung angespannt gewesen sein, als die Verhandlungen am Morgen des 9. Dezembers im bis auf den letzten Platz besetzten Grossratsgebäude einsetzten. Ganz im Sinne der Bestrebungen, politische Diskussionen zu vermeiden, stützte sich die Anklage Friedrich Brüggers bei der Analyse der Tathintergründe im Besonderen auf den gesundheitlichen Zustand Frankfurters, der im psychologischen Gutachten als kritisch eingestuft wurde. Dr. Jörger bezeichnete Frankfurter zwar als zurechnungsfähig, unterstellte ihm aber eine reaktive Depression sowie Suizidgedanken, die ihn zu seinen Handlungen bewogen hätten. Die Anklage schloss daraus, dass Frankfurters Tat als Mord zu behandeln sei und beantragte eine Haftstrafe von 18 Jahren sowie einen lebenslänglichen Landesverweis.

Untersuchungsakten der Bündner Polizeibehörden zum Fall.
Untersuchungsakten der Bündner Polizeibehörden zum Fall.
zVg

Plädoyer der Verteidigung

Ganz im Gegensatz zu Brügger, stützte sich die Verteidigung Frankfurters, die von Dr. Curti übernommen wurde und am dritten und vierten Verhandlungstag zu Wort kam, vor allem auf die politischen Hintergründe der Tat. Ausführlich ging Dr. Curti zu diesem Zweck auf die Verfolgung und Schändung der Juden in Deutschland ein, zitierte Passagen aus «Mein Kampf», beleuchtete die Rolle Gustloffs in der Schweiz, bezeichnete denselben als «kleinen Diktator Davos’» und verurteilte dessen Handlungen als nur scheinbar legal. Aufgrund all dieser Gründe kam die Verteidigung zur Auffassung, dass Frankfurters Tat als Totschlag eingestuft und das verlangte Strafmass deutlich reduziert werden müsste.

Wenig überraschend stiess das Plädoyer der Verteidigung auf Ablehnung. So kritisierte der deutsche Zivilkläger Professor Grimm die Aussagen Dr. Curtis als zu politisch und Friedrich Brügger sprach von «weitausholenden politischen Exkursionen des Verteidigers, die den Eindruck erwecken, dass Dr. Curti weniger zum Gericht, als ‚zu einer bestimmten Presse‘ gesprochen habe.» Sogar das «Bündner Tagblatt», das sich bis dahin durch eine ausgewogene Berichterstattung hervorgetan hatte, sprach von «ziemlich lang geratenen Darlegungen» der Verteidigung, die zwar «tiefen Eindruck machten, aber direkt mit dem Mordfall Frankfurters nichts zu tun haben.»

Handelten die Bündner Richter korrekt?

Am 15. Dezember folgte die Urteilsverkündung; David Frankfurter wurde in allen Anklagepunkten für schuldig befunden und mit 18 Jahren Zuchthaus sowie lebenslänglichem Landesverweis bestraft. Ein Strafmass, das nicht nur vom «Bündner Tagblatt», das die Beweisführung des Amtsklägers und das «bodenständige bündnerische und schweizerische Rechtsempfinden» lobte, begrüsst wurde, sondern ebenso von der NZZ, in der es hiess, «das Urteil gereicht der Unabhängigkeit und dem Pflichtbewusstsein der Bündner Richter und damit unserem Land zur Ehre». Gleichzeitig wurde von allen Seiten die Hoffnung ausgesprochen, dass sich die angespannte deutsch-schweizerische Beziehung nun alsbald beruhigen werde.

Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, ob die Bündner Richter korrekt handelten. Was sicherlich als völlig verfehlt eingestuft werden darf, ist der Versuch einer vollständigen Entpolitisierung des Prozesses. Frankfurters Tat ist nur im Kontext der damaligen politischen Verhältnisse zu verstehen, die ihn als Juden in besonderem Masse tangierten. Dass die Bündner Justiz in ihrer Aburteilung alle politischen Faktoren ausblendete, ist aber nicht nur auf den Druck Deutschlands, sondern ebenso auf die Mängel des kantonalen Strafgesetzbuches, auf dessen Basis das Urteil beruhen musste und das keinen politischen Mord kannte, zurückzuführen. Dennoch liesse sich darüber diskutieren, ob keine mildernden Gründe hätten geltend gemacht werden können, um das Strafmass um einige Jahre zu reduzieren.

Späte Rechtfertigung

Dass die Bündner Justiz selbst nicht vollständig überzeugt gewesen sein kann, zeigt sich in dem Umstand, dass Frankfurter am 1. Juni 1945, kurz nach dem Untergang des Dritten Reichs, frühzeitig aus seiner Haft entlassen wurde. Die Entscheidung darüber, ob die Aburteilung Frankfurters und die spätere frühzeitige Entlassung desselben gerecht oder rechtens war, bleibt somit jedem selbst überlassen.

 

*Der Artikel von Luise Sigron wurde mit freundlicher Genehmigung aus der Büwo vom 28. April übernommen.

 

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