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Julias Leiden

Julia leidet an einer seltenen Krankheit: Kinderdemenz. Sie wird als Teenager sterben, wenn sie keine Hilfe bekommt. Eine neue Studie könnte genau diese Hilfe bieten – doch sie kostet sehr viel Geld.

Kristina
Schmid
02.04.21 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Wettlauf gegen die Zeit: Julias Eltern sammeln Geld, um ihrer Tochter helfen zu können.
Wettlauf gegen die Zeit: Julias Eltern sammeln Geld, um ihrer Tochter helfen zu können.
OLIVIA FOTOGRAFIE

Es war still im Auto auf dem Nachhauseweg. Ursina Schmid und ihr Mann Mario Raciti sassen nebeneinander; doch keiner der beiden brachte ein Wort über die Lippen. Zu schwer wog die Last der Diagnose, die ihnen soeben für ihre fünfjährige Tochter Julia gestellt worden war: Mucopolysaccharidosen. So unaussprechlich das Wort, so unbeschreiblich die Krankheit, mit der Julia leben muss. Besser bekannt ist das Leiden als Sanfilippo-Syndrom. Besser verständlich als Kinderdemenz.

Es war ein Donnerstag. Der 5. Dezember 2019. Der Tag, der das Leben der Familie für immer verändern sollte. Es war der Tag, an dem eine Genetikerin und zwei Ärzte im Kantonsspital in Chur dem Paar zu erklären versuchten, was es denn genau ist, das ihre Tochter hat. Als die Ärztin «Mucopolysaccharidosen» sagte, entgegnete Schmid «Scheisse». Sie hatte dieses Wort zuvor schon irgendwo gelesen. Obwohl sie just in dem Moment nicht mehr wusste, in welchem Zusammenhang, war ihr augenblicklich bewusst: Das ist nichts Gutes.

Eine unbändige Frohnatur

Zu Hause in Zizers angekommen, nahm Schmid ihre Tochter in den Arm, drückte sie eng an sich. «Ich wollte sie nur noch halten», sagt Schmid. Die 43-Jährige blickt aus dem Fenster, sagt einige Sekunden nichts. «Ich hab so geheult.» Dann schluckt sie leer.

Es ist etwas, das sie während des Gesprächs häufig tut. Kurz innehalten. Leer schlucken. Den Kopf wegdrehen. Ihrer jüngeren Tochter Giada durch die Haare fahren. Es sind Momente, in denen sie sich sammelt. Um den nächsten Satz aussprechen zu können. «Immer, wenn ich es jemandem erzählt hatte, konnte ich die nächste halbe Stunde lang nur weinen. Und dann gar nicht mehr darüber reden. Mindestens einen Tag nicht.»

Giada lehnt ihren Kopf an den Brustkorb ihrer Mutter, schliesst die Augen. Die Vierjährige ist eingenickt. Ihre Mutter drückt ihr einen sanften Kuss auf den braunen Haarschopf. Ihre ältere Schwester Julia ist während des Gesprächs nicht zu Hause, weil ein Gespräch im Beisein von Julia nie in dieser Ausführlichkeit stattfinden könnte. Zwei Stunden später, als Julia fürs Mittagessen aus dem Schulheim in Chur zurückkommt, wird klar warum. Julia ist fröhlich. Sie lacht viel. Steht keine Sekunde still. Sie geht auf alle Menschen zu, nimmt sie förmlich ein. Und beansprucht jegliche Aufmerksamkeit für sich. Julia ist anders. Gut anders. Sie füllt einen Raum aus, wenn sie ihn betritt. Aber jeden Schritt, den sie macht, muss ihre Mama im Auge behalten.

Das grosse Ganze fehlt

Julia kam am 9. März 2014 mit einem «zu grossen Kopf» und geschlossener Fontanelle auf die Welt. So hatten es die Ärzte damals formuliert. Die Familie wollte das abklären lassen. In Chur, in Zürich, sogar in Rom. Die Ärzte erklärten, das sei eine rein kosmetische Angelegenheit. Vielleicht würde sie mehr Mühe beim Lernen haben. Aber es sei kein Grund zur Sorge.

Julia hörte mit der Zeit immer weniger. Sie ging zum Ohrenarzt.

Julia hatte andauernd Ohrenentzündungen. Sie wurde behandelt.

Julia sah mit der Zeit immer weniger. Sie bekam eine Brille.

Julia fing medizinisch betrachtet spät an zu laufen. Sie braucht «halt» mehr Zeit.

Julia fing medizinisch betrachtet spät an zu sprechen. Das kommt «halt» vor.

Die Ärzte sahen sich die einzelnen Fälle genau an. Stellten die Diagnosen und besprachen die Behandlungsmöglichkeiten mit den Eltern. Doch niemand setzte sich hin und studierte all diese einzelnen Fälle im Verhältnis zueinander. Niemand suchte den Kontext.

Jeder studierte die einzelnen Puzzle-Stücke, doch niemand fügte sie zusammen.

Das unbekannte Etwas

Je länger die Krankheit andauert, desto mehr verändert sich Julia. Mit vier Jahren erreicht sie einen neuen, kritischen Höhepunkt. Sie verhält sich hyperaktiv. Kann nicht still sitzen. Räumt sämtliche Schubladen aus. Verstaut die Sachen an neuen Orten. Fängt an, Sachen zu werfen, wenn sie wütend wird. Nimmt eine Abwehrhaltung ein, wenn sie nicht verstanden wird. Ihre Eltern wissen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass Julia aufgrund der Krankheit einfach nicht in der Lage ist, Dinge und Geschehnisse zu reflektieren. Dass Julia nicht weiss, was gut ist und was nicht.

Egal, wie die Eltern die Schwierigkeiten mit Julia gemeinsam angingen, es nützte nichts. Erklären, gutes Zureden, fordern, ignorieren, ermutigen. «Man sagte mir, Julia sei wohl in einer Trotzphase, in einer heftigen, weil sie ein Geschwisterchen bekomme. Doch diese Erklärung ergab für mich wenig Sinn. Ich spürte einfach, dass es etwas Anderes war», sagt Schmid.

Also liessen Julias Eltern das Mädchen auf ADHS testen. Dann auf Autismus. Doch beides war es nicht. Was also war mit Julia?

Als Julia plötzlich nicht einmal mehr ihre Schuhe binden konnte, obwohl sie es doch den ganzen letzten Monat getan hatte, erhärtete sich bei den Eltern der Verdacht, dass hinter Julias Verhalten mehr stecken musste als eine reine Trotzreaktion. Die Eltern setzten sich dafür ein, dass bei Julia ein Gen-Test gemacht wird. Die Ärzte sagten nach einem persönlichen Gespräch mit Julia zu. Das Ergebnis des Tests brachte an jenem 5. Dezember 2019 Licht in die Dunkelheit – und Dunkelheit über die Familie. «Es war der traurigste und schwärzeste Tag unseres Lebens», sagt Schmid.

Ein positives Zeichen

Der Feind der Familie hat inzwischen seit mehr als einem Jahr einen Namen. Mucopolysaccharidosen. Und selbst wenn der Name nichts Gutes verheisst, so ist es doch gut, ist er nun benannt. Seit die Familie Julias Diagnose kennt, kann sie die Siebenjährige in ihren Bedürfnissen besser unterstützen. Kann besser verstehen, weshalb Julia reagiert wie sie reagiert. Und kann alles daransetzen, Julias grössten Wunsch zu erfüllen: den nach Heilung.

Die Eltern sind in ihren Recherchen über die Krankheit, im Networking mit betroffenen Eltern, in ihrer Suche nach mehr Fachwissen auf eine Studie gestossen, die für Julia vielversprechend sein könnte. Die erste seit der Diagnose. Die Studie könnte für das kleine Mädchen im besten Fall bedeuten, dass sie vielleicht nicht schon mit 13 oder 14 Jahren sterben muss. Zumindest nicht deshalb, weil ihrem Gehirn ein Enzym fehlt, das sie eigentlich so dringend bräuchte.

Doch die Studie ist neu und kostet viel Geld. Mehr als eine Million Franken. Die Eltern setzen all ihre freie Zeit und verfügbare Energie dafür ein, das Geld zu sammeln, auch wenn ihnen niemand garantieren kann, dass die Studie wirksam sein wird. «Wir können doch nicht einfach zusehen, wie uns diese grässliche Krankheit immer mehr Stücke von Julia raubt», sagt Schmid. Es war der Grund, weshalb Julias Eltern den Verein «Hope for Julia» ins Leben riefen. «Es besteht in diesem Fall wirklich Hoffnung. Denn erste Versuche haben gezeigt, dass die Studie (siehe Infokasten) vielversprechend ist.»

Wettlauf gegen die Zeit

Jeden Tag, den Julia erleben darf, ist ein Gewinn. Und gleichzeitig ist er ein Verlust, weil die Krankheit weiter voranschreitet. «Diese Studie könnte helfen, das Fortschreiten der Krankheit zu stoppen. Das wäre schon einmal ein erster Sieg. Deshalb würden wir uns wünschen, die Studie könnte in der Schweiz durchgeführt werden. Und, dass unsere Julia daran teilnehmen kann.»

Die Krankheit und die Studie

- Kindern, die am Sanfilippo-Syndrom leiden, fehlt ein Enzym, das grosse und komplexe Zuckermoleküle abbaut.

Im Laufe der Zeit füllen sich die Körperzellen, bei Sanfilippo vor allem die Gehirnzellen, mit Abfällen, die der Körper nicht ausscheiden kann. Das Gehirn wird zunehmend geschädigt.

In der Forschung werden unter anderem Substanzen untersucht, die den Zellen helfen könnten ihre Abfälle auszuscheiden. Eine solche Substanz könnte der Zweifachzucker Trehalose sein.

Seit einem Jahr verabreichen Julias Eltern ihrer Tochter den Zucker oral. Und sie haben gemerkt, dass die Krankheit weniger schnell voranschreitet als bisher.

Damit sind Julias Eltern nicht alleine. Auch andere Eltern aus verschiedensten Ländern verabreichen ihren betroffenen Kindern Trehalose, bisher oral.

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Das Problem: Der Zucker wird im Magen gespalten und abgebaut. Nur ein kleiner Bruchteil des Zuckers gelangt ins Gehirn und kann helfen. Die Zuckerdosis zu erhöhen nützt nichts, weil der Abbau dadurch nur intensiviert wird und die Kinder Durchfall bekommen, womit nichts mehr ins Gehirn gelangt.

Julias Eltern möchten eine Studie ermöglichen, in welcher die Wirksamkeit von Trehalose untersucht wird, wenn diese via Infusion direkt ins Blut verabreicht wird.

Julias Eltern rechnen mit Kosten von über einer Million. Deshalb sammeln sie Spenden.

Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Je schneller das Geld beisammen wäre, desto schneller könnte die Studie durchgeführt werden und Julia mit etwas Glück daran teilnehmen. Das wiederum würde Julia in die Karten spielen, ist gerade die Zeit nicht ihr grösster Freund. Jeden Tag nimmt sie Julia schliesslich ein bisschen mehr von ihr selbst weg. Stück für Stück. Eines Tages wird Julia gar nicht mehr reden können. Doch daran wollen ihre Eltern nicht denken. Auch nicht daran, dass sie eines Tages auf den Rollstuhl angewiesen sein wird. Und auch nicht daran, dass sie irgendwann nicht mehr alleine essen wird. Und schon gar nicht daran, dass sie sich früher oder später von ihr werden verabschieden müssen. Falls jetzt nicht etwas geht.

Ursina Schmid und ihr Mann Mario Raciti versuchen, positiv zu denken. Hoffnungsvoll zu bleiben. Für ihr eigenes Wohl. Aber auch für das Wohl ihrer beiden Töchter. Sie lachen viel mit den Mädels. Planen Ausflüge. Unternehmen Dinge. Und hängen die Erinnerungen daran an jede einzelne Wand ihres Zuhauses. Als würden sie die Momente, die sie zu viert erleben, einfrieren wollen. Für die Ewigkeit. «Wir hoffen, um uns nicht zu sorgen. Und sorgen uns nicht, um den Tag und die Zeit mit unseren Kindern geniessen zu können.»

Es ist ein schweres Kreuz, das die Eltern zu tragen haben. Und Corona hat ihnen diese Aufgabe zusätzlich erschwert. Die beiden können für Julia kein Benefizkonzert veranstalten. Keine Spendenaktionen im Dorf organisieren. Sie können nichts machen, das Menschenansammlungen und Geld bringen würde. Zurzeit können sie lediglich online präsent sein und hoffen, dass ein Leser oder eine Leserin spendet.

Julia schlägt mit ihrer Gabel und ihrem Löffel gegen die Stuhllehne, als wäre es ein Schlagzeug. Sie lacht laut und ruft dann: «Essa.» Es gibt Hörnli mit Apfelmus. Etwas, das Julia noch ohne fremde Hilfe essen kann.

Kristina Schmid berichtet über aktuelle Geschehnisse im Kanton und erzählt mit Herzblut die bewegenden Geschichten von Menschen in Graubünden. Sie hat Journalismus am MAZ studiert und lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern im Rheintal, worüber sie in ihrem Blog «Breistift» schreibt. Mehr Infos

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