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Die Schutzengel konnten nicht helfen

70 Jahre nach der Lawinenkatastrophe von Vals erzählt eine damals Verschüttete von den schlimmen Stunden am 20. Januar 1951.

Jano Felice
Pajarola
06.02.21 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit

Als es um 21.59 Uhr zuerst dumpf donnert und wenig später heult, dröhnt, kracht und überall im Ort dunkel wird, liegt sie im Nachthemd im Bett und schläft. Weiss nicht, dass diese Sekunden ihr Leben verändern werden. Dass sie ihren Vater und zwei ihrer Geschwister nicht mehr lebend wiedersehen wird. Als sie aufschreckt, erwacht, weiss sie nur: Ich stecke im Schnee. Ich ersticke fast. «Ich dachte, ich höre meine Mutter um Hilfe rufen. Aber vielleicht waren es auch die Stimmen der Helfer, die nach uns suchten.»

70 Jahre danach, noch dazu in einem Winter mit enormen Schneemengen, kommt vieles wieder hoch. Gerne erzählt Pia Deplazes-Tönz nicht davon, was sich am Abend des 20. Januar 1951 in Vals ereignet hat. Es braucht Überwindung. Aber das Unglück ist präsenter denn je, «jetzt, wo ich alt bin. Es tut mir weh, was damals alles passiert ist». Sie lebt mit ihrem Mann in Chur, die alte Heimat besucht sie nicht mehr oft, «im Winter überhaupt nicht». Obwohl sie natürlich weiss, dass das Dorf längst geschützt ist gegen den Weissen Tod: Die Erlebnisse als elfjähriges Mädchen, die Erinnerungen an eine Katastrophe mit Ankündigung bleiben.

Schneefall und Sturmwinde

Der Januar 2021 und der Januar 1951 ähneln sich betreffend Schneehöhen. Die Niederschlagsmengen am 18. Januar 1951 sind beträchtlich, und am folgenden Tag schneit es weiter. Das Lawinenbulletin warnt bereits am 19. Januar vor «sehr grosser» Gefahr; es könnten auch «selten auftretende Lawinen niedergehen». Gleichentags kommen zum Schneefall sturmartige Winde in den Bergen hinzu. Im Valser Talboden fallen in drei Tagen etwa 100 Zentimeter Neuschnee; in den Anrissgebieten in der Höhe lagert sich durch die Winde vermutlich noch deutlich mehr ab. Das Bulletin vom 20. Januar hält fest, die Lawinengefahr habe sich «wesentlich verschärft und ein ausserordentliches Ausmass angenommen».

Am Samstagmittag löst sich in Vals erstmals seit 139 Jahren die Molatobel-Lawine aus dem Gebiet der Leisalp. Sie zerstört vier Ställe. Ein Alarmzeichen. Der Gemeindepräsident rät, einige exponierte Häuser zu evakuieren. Umgesetzt wird der Ratschlag nicht, wie der 1952 erschienene Winterbericht des damaligen Instituts für Schnee- und Lawinenforschung Weissfluhjoch/Davos festhält. Das Schicksal nimmt seinen Lauf.

Ein «digitales Fenster»

Zum aktuellen Lawinenwinter-Gedenkjahr planen die Gandahus-Vereinigung, die Schul- und Gemeindebibliothek Vals, die Plattform Kultur am Montag und das Forum Vals verschiedene Aktivitäten und Veranstaltungen unter dem Titel «Lawinenwinter 1951 – Vals erinnert sich». Eine davon ist trotz der Coronasituation schon umgesetzt: In der Galerie Lisa Lee Benjamin im Haus Fridolin Hubert in Vals werden bis Ende Februar in einem «digitalen Fenster» Fotos von 1951 gezeigt. Sie stammen aus dem Bestand der Fotografen Franz und Karl Heini, realisiert hat die Präsentation Pascal Werner von der Fotostiftung Graubünden. Weitere Anlässe sollen folgen. (jfp)

Die Moors wollen nicht fort

«Ich weiss noch, die Mutter hat gesagt, wir müssen raus aus unserem Haus», erzählt Pia Deplazes-Tönz. Der Familie Tönz gehört das Gebäude, eine zweite Familie wohnt zur Miete darin, es sind die Moors mit ihren drei Buben und zwei Mädchen. Und die Moors wollen nicht fort. «Sie haben gesagt, mit ihren Kindern hätten sie so viele Schutzengel. Und da fand meine Mutter: Wenn unsere Mieter nicht gehen, können wir auch nicht gehen.» Als um 21.59 Uhr das Licht ausgeht, sind zwölf Personen im Haus Tönz. Zwei komplette Familien. Nur Pias ältere Schwestern Klara und Theresia sind nicht da, sie arbeiten auswärts in Hotels.

Die Alpbüel-Lawine erwischt Teile des Dorfs mit Gewalt. Links des Valserrheins, zwischen der Brücke und dem Kurhaus, zerstört sie Wohnbauten und Ställe, begräbt über 30 Menschen. Auch die Familien Tönz und Moor. Zurück bleibt ein Trümmerfeld.

Als das Ausmass der Katastrophe in der Dunkelheit klar wird, lässt der Gemeindepräsident die Glocken läuten. Innert einer Viertelstunde sind die Valser Männer auf dem Platz, sie beginnen mit den Rettungsarbeiten, kämpfen gegen die Zeit. Fünf Ledige werden auf den Weg nach Uors geschickt, aller Gefahr zum Trotz. Die Telefonverbindung ist unterbrochen, sie müssen Unterstützung ins Tal holen, bahnen sich ihren Weg durch meterhohen Neuschnee. Elf Kilometer weit. Um 3.30 Uhr kommen sie an, geben die Schreckensmeldung weiter. Die Hilfe rollt an.

In Graubünden mehr als 50 Menschenleben gefordert

Auch wenn die Zahlen je nach Quelle leicht auseinandergehen: Der Lawinenwinter 1950/51 hatte in Graubünden schwerwiegende Folgen. Genau die Hälfte der insgesamt in den Schweizer Alpen niedergegangenen Schadenlawinen wurden in Graubünden gezählt, nämlich 649. In den weissen Massen kamen kantonsweit mehr als 50 Menschen um, darunter 19 in Vals, 7 in Zernez, je 5 in Zuoz und in Safien-Neukirch, 3 in Lü und im Dischmatal, 2 in Klosters, Davos-Glaris und Monstein und je eine  Person in Tujetsch, in der Val Medel, in Obersaxen, auf der Alp Grüm, in St. Antönien und in Luzein. Laut der «Naturchronik für das Jahr 1951» wurden zudem im Kanton 473 Gebäude zerstört und 92 weitere beschädigt, 215 Stück Vieh getötet und 347 Hektar Wald verwüstet, das entspricht einer Fläche von fast 500 Fussballfeldern. Die Ereignisse hatten einen massiven Ausbau der Verbauungen zur Folge. (jfp)

Die Hoffnung schwindet

Die junge Pia und ihre Mutter Paulina sind um diese Zeit schon gerettet, nach vier Stunden im Schnee, die Lawine hat sie 60 Meter von ihrem Haus weggeschleudert. «Ich war unverletzt, aber natürlich völlig verstört», erinnert sich die heute 81-Jährige. «Die Mutter war verletzt, sie musste ins Spital.» Pausenlos wird im Trümmerfeld weitergesucht. Doch bis am Sonntagabend wird aus dem Haus Tönz niemand mehr gefunden. Die Hoffnung schwindet.

36 Stunden nach dem Niedergang der Lawine wird Pias Schwester Emilia ausgegraben, vier Stunden später Vater Heinrich, wenig später Bruder Eugen. Sie sind alle tot. «Sie lagen eigentlich nicht so tief im Schnee. Aber an einem Ort, an dem man sie nicht vermutet hatte. Deshalb fand man sie erst spät», sagt Pia Deplazes-Tönz. Nach mehr als 58 Stunden wird schliesslich die Familie Moor entdeckt, ebenfalls tot, vom 40-jährigen Vater bis zur anderthalbjährigen Jüngsten. Insgesamt verlieren durch die Alpbüel-Lawine 19 Valserinnen und Valser ihr Leben.

Woanders im Dorf neu gebaut

Nach der Nacht, in der auch die Schutzengel nicht helfen konnten, habe Mutter Paulina stets ein Kopftuch getragen, erzählt Pia Deplazes-Tönz. Vielleicht habe sie sich so ein wenig geschützt gefühlt. Dort, wo das Haus gestanden habe, habe die Mutter nicht mehr leben wollen, zuerst seien sie beide in eine Wohnung gezogen, später habe sich die Mutter für einen Neubau woanders in Vals entschieden. Sie starb 1959 an einem Tumor. Pia, 19 Jahre alt, war nun auf sich allein gestellt. Und sie machte ihren Weg.

Sind Narben geblieben? «Nein. Ich denke, ich konnte verarbeiten, was passiert ist», gibt sich die einst Verschüttete heute überzeugt. Auch wenn es weh tat und die Erinnerung noch immer schmerzt: Das Leben ging weiter, «man musste einen Strich ziehen.» Aber dieses ungute Gefühl, wenn winters viel Schnee liegt, das will nicht verschwinden.

Regionalforstingenieur Riedi: «Die Schutzmassnahmen wirken heute sehr gut»

Trotz des vielen Schnees mussten in Vals diesen Winter noch keine aussergewöhnlichen Lawinenereignisse registriert werden. «Von einer lokalen Meldung wissen wir, dass bei Lunschania eine Lawine bis zum Valserrhein vorgedrungen ist, sonst gab es nur kleinere Vorkommnisse», sagt Bernard Riedi vom Amt für Wald und Naturgefahren, in der Surselva zuständig für Schutzbauten. Vals sei heute aber auch gut geschützt: einerseits durch permanente Stahl- und Netzverbauungen sowie Lawinendämme, andererseits durch die erfolgten Aufforstungen und die Schutzwaldpflege. 

«Die ersten Verbauungen entstanden schon kurz nach 1900 auf der Seite des Hora», weiss Riedi. Am Valser Hausberg wurden Trockenmauern erstellt, die gleichzeitig vor Lawinen und Rüfen schützen sollten. «Danach gab es eine Pause bis zum Lawinenwinter 1951, er war die Initialzündung für weitere Verbauungen.»

In den Siebzigerjahren folgten dann die Dämme. Im Lawinenwinter 1974/75 hatte sich an der Satteltilücke die Alpbüel-Mattelawine gelöst, war – trotz der flachen Leisalp dazwischen – bis hinab ins Dorf gestürzt und hatte grossen materiellen Schaden angerichtet. Oberhalb der Leisalp wurde deshalb ein Auffangsystem mit drei mächtigen Dämmen gebaut. 23 Meter hoch hätten sie werden sollen, doch das war geotechnisch nicht ganz möglich. Die Dämme schlucken nun etwa 50 Prozent des Schnees, der sich oberhalb lösen kann. Und sie haben sich bereits bewährt: 1999 konnte ein Niedergang bis nach Vals dank ihnen verhindert werden.

«All diese Schutzmassnahmen wirken heute sehr gut», konstatiert Riedi. «Die Bauwerke werden auch laufend kontrolliert. Ausserdem gibt es noch die organisatorischen Massnahmen wie den Lawinendienst. Wir sind gut aufgestellt.» Natürlich gebe es im alpinen Umfeld Graubündens nie einen hundertprozentigen Schutz. «Aber nach menschlichem Ermessen müssen sich die Valserinnen und Valser heute keine Sorgen mehr machen.» (jfp)

Jano Felice Pajarola berichtet seit 1998 für die «Südostschweiz» aus den Regionen Surselva und Mittelbünden. Er hat Journalismus an der Schule für Angewandte Linguistik in Chur und Zürich studiert und lebt mit seiner Familie in Cazis, wo er auch aufgewachsen ist. Mehr Infos

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