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«Die Liebe kann man nicht verbieten»

75 Jahre nach Kriegsende gibt die Interessengemeinschaft der Nachkommen internierter Polen in der Schweiz ein Buch über Familien heraus, die es eigentlich gar nicht hätte geben sollen. Für Herausgeber und IG-Präsident Stefan Paradowski erfüllt sich damit ein Herzensprojekt.

09.12.20 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Stefan Paradowski stellt im Buch «Interniert» 21 polnisch-schweizerische Familiengeschichten vor.
Stefan Paradowski stellt im Buch «Interniert» 21 polnisch-schweizerische Familiengeschichten vor.
SASI SUBRAMANIAM

Im Jahr 1940 wurden rund 12 500 polnische Soldaten in Lagern in der ganzen Schweiz interniert. Die Polen hatten in Frankreich gegen die Nazis kämpfen wollen. Zusammen mit 30 000 französischen Soldaten mussten sie aber vor der Übermacht der deutschen Wehrmacht Schutz in der Schweiz suchen. Die Polen, die bis Kriegsende in der Schweiz bleiben durften, bauten dafür Strassen und Brücken, auch im Glarnerland. Sie wurden für die Melioration der Linthebene und in der Anbauschlacht eingesetzt. Für die Jüngeren gab es Ausbildungsangebote. Schweizer Frauen kennenlernen oder sogar heiraten und Familien gründen sollten sie aber keinesfalls. Dies verbot der sogenannte «orange Befehl» über die Beziehungen der Zivilbevölkerung zu den Internierten. «Den Internierten ist die Eingehung einer Ehe nicht gestattet. Es sind daher auch alle auf eine solche hinzielenden Beziehungen mit Internierten untersagt», heisst es dort. Polen und Schweizerinnen verliebten sich trotzdem und hatten – mit und ohne Trauschein – Kinder.

Im Buch «Interniert» erzählen Nachkommen von Internierten ihre Lebensgeschichten. Sie begeben sich auf Spurensuche zu ihren Vätern. Die Geschichten erzählen von den Folgen der Kriegszeit und der speziellen Herkunft, die ihre Familien bis heute prägt.

Herr Paradowski, was bedeutet Ihnen dieses Buch?

Stefan Paradowski: Es bedeutet mir sehr viel. Weil wir lange daran gearbeitet haben. Vom Sammeln der Geschichten bis zum druckreifen Redigieren. Speziell war, dass die Leute ihre Geschichte selber verfassen wollten. Was emotional so einiges ausgelöst hat. Viele haben ihre Familiengeschichte beim Schreiben nochmals durchlitten. Das war auch bei meiner Schwester so, die unsere eigene Familiengeschichte aufgeschrieben hat.

Wie entstand die Idee zum Buch?

Die Idee ist schon alt. Bald nachdem wir unsere IG vor sieben Jahren gegründet haben, haben wir einen ersten Aufruf gestartet, um Familiengeschichten zu sammeln. Nach einer Anlaufphase kamen sie. Letztlich haben wir drei Jahre intensiv am Buch gearbeitet.

Was war Ihre Rolle?

Ich habe die Redaktionsgruppe geleitet. Wir dachten zuerst nur an 12 bis 15 Geschichten. Es sind jetzt 21 sehr unterschiedliche, glückliche und tragische Erzählungen geworden.

75 Jahre nach Kriegsende ist sicher der letzte Moment, um noch direkt mit Zeitzeugen zu reden.

Das ist so. Der letzte Internierte, der mit einer Schweizerin verheiratet war und im Buch seine Geschichte erzählt, ist diesen Sommer 100-jährig gestorben.

Das Schweizer Fernsehen zeigte kürzlich die aufwendige Serie «Frieden». Was für ein Licht will Ihr Buch auf die Schweiz und den Zweiten Weltkrieg werfen?

Wir stellen zuerst einmal fest, dass man die Episode der polnischen Internierten kaum kennt. Viele Leute sind total erstaunt zu hören, dass die Schweiz von einem Tag auf den anderen im Juni 1940 über 45 000 Soldaten aufgenommen hat. Dieser Entscheid des Bundesrates ist ein Eckpfeiler der humanitären Tradition der Schweiz. In unseren Kreisen sind die Menschen unendlich dankbar, wie die Schweiz damals als neutrales Land all diese Soldaten aufnahm. Viele durften sich sogar ausbilden und studieren. Insgesamt beherbergte die Schweiz 300 000 Flüchtlinge, wovon 100 000 Internierte. Die sogenannte Bergier-Kommission schätzt die Zahl der abgewiesenen Flüchtlinge – meist Juden – auf 20 000.

Was empfinden Sie, wenn Sie den «orangen Befehl» auf dem Buchumschlag mit dem behördlichen Ehe- oder Kontaktverbot anschauen? Ihr Vater, der in der Linthebene in Reichenburg interniert war, lernte ja 1944 trotzdem ihre Mutter in Benken kennen.

Die Liebe kann man nicht verbieten (lacht). Die Bevölkerung war damals sehr viel offener als die Behörden. Das Problem war aber der Verlust des Bürgerrechtes durch die Heirat. Meine Eltern sind deshalb mit zwei kleinen Kindern mittellos nach Australien ausgewandert. Als meine Mutter nach dem frühen Tod meines Vaters dreieinhalb Jahre später mit drei kleinen Kindern in die Schweiz zurückkehrte, musste sie sich als ursprüngliche Schweizerin aufwendig einbürgern lassen. Das dünkt mich, das war wohl die grösste Demütigung, die meine Mutter erlebt hat.

Was hat Sie bei den verschiedenen Geschichten besonders berührt?

Bemerkenswert ist, wie gut sich die Polen in der Schweiz integriert haben. Ich denke, das hat sehr viel mit der warmherzigen Aufnahme durch die Bevölkerung zu tun. Auch die Frauenvereine haben sich damals sehr engagiert. Und den Schweizer Frauen sind auf der anderen Seite bei den charmanten Polen wohl die Herzen geschmolzen.

Im Nachwort merkt Maria-Isabelle Bill an, dass die Rolle dieser Frauen etwas zu kurz kommt.

Die Rolle der Frauen ist im Buch nicht zentral, sie kommt aber zum Ausdruck. Sie hatten es sicher schwer, sich durchzukämpfen. Ihre Liebe mit einem Polen war zugleich auch etwas Besonderes. Es lief aber nicht immer rund. Ihre Kontakte sind beäugt worden, sie wurden auch als «Polenhuren» beschimpft. Das ist in Lachen, wo ich jetzt wohne, sogar aktenkundig.

Wie viele polnische Internierte gab es denn im Glarnerland und was für Zeichen haben sie in der Landschaft der Region hinterlassen?

Genaue Angaben habe ich keine. Für das Lager in Reichenburg, wo mein Vater war, habe ich die Zahl von 150 Personen gefunden. Im Glarnerland gab es verschiedene Lager, unter anderem in Linthal. Ich recherchiere fortlaufend, auch im Landesarchiv, um noch mehr über die Internierung im Linthgebiet und Glarus zu erfahren. Gerade habe ich ein Protokoll gefunden, welches festhält, dass der Regierungsrat eine Ehe zwischen einer Glarnerin und einem Polen gestattet hat.

Gibt es auch im Kanton Glarus einen Polenweg?

Polenwege sind über 50 in der Schweiz verzeichnet. Drei davon im Glarnerland, einer in Braunwald, einer zwischen Solsteg und Durnachtal und einer im Tierfehd zwischen Reitimatt und Chrumlaui. Dort gibt es auch eine Gedenktafel. Weiter kennt man auf dem Sulzboden in Näfels den sogenannten Polenweiher. Es gibt zudem diverse Strassenabschnitte in verschiedenen Dörfern, die von Internierten angelegt wurden. Beim ehemaligen Bahnwärterhäuschen Oberurnen erinnert ein Denkmal an den Arbeitseinsatz der Polen in Näfels und Oberurnen.

In Coronazeiten ein Buch zu promoten, ist nicht ganz einfach. Die zweite Lesung mit beschränkter Platzzahl ist bereits ausgebucht.

Weil wir die grosse Vernissage mit über 100 Anmeldungen im Schloss Rapperswil absagen mussten, machen wir jetzt vielerorts kleine Lesungen – mit Start in Glarus.

Marie-Isabelle Bill, «Interniert – Polnisch-schweizerische Familiengeschichten», 2020. 272 Seiten, 96 Abbildungen s/w. ISBN 978-3-0340-1589-9

Am Freitag, 11. Dezember, 19 Uhr, findet in der Buchhandlung Baeschlin in Glarus eine zweite Lesung von «Interniert» statt. Dies mit Marie-Isabelle Bill, Redaktorin und Lektorin, Cécile Schefer-Stupka aus Niederurnen, Autorin des Buchbeitrages «Vatersprache», und dem heute in Lachen lebenden «Glarner» Stefan Paradowski, Präsident der Interessengemeinschaft der Nachkommen internierter Polen in der Schweiz. Die Lesung ist bereits ausgebucht. Weitere Anmeldungen (office@baeschlin.ch ) kommen auf eine Warteliste. Bei grossem Interesse wird eine weitere Lesung in Aussicht gestellt. (ckm)

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