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«Der Austausch über Bücher hat für mich was Beglückendes»

Bücher lesen: Nie war etwas besser für den Zeitvertreib geeignet als zu Zeiten der Coronakrise. Nur: Wohin mit all den Gedanken und Gefühlen, die beim Mitfiebern einer spannenden Geschichte auftauchen? Schriftsteller Arno Camenisch hat mit uns darüber gesprochen. Und verraten, welches Buch er in den letzten 20 Jahren immer wieder gelesen hat.

Simone
Zwinggi
22.05.20 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Arno Camenisch: «Ein gutes Buch ist wie die Fassade eines alten Gebäudes, an dem das Licht jeden Tag etwas anders bricht.»
Arno Camenisch: «Ein gutes Buch ist wie die Fassade eines alten Gebäudes, an dem das Licht jeden Tag etwas anders bricht.»
JANOSCH ABEL

Arno Camenisch ist einer der bekanntesten Bündner Autoren, hat bislang elf Bücher geschrieben und gestaltet Lesungen, die den Zuschauern noch lange in Erinnerung bleiben. Doch bevor er hier zu Wort kommt, sollt ihr erfahren, wie es überhaupt zu dem Artikel kam, den ihr gerade lest:

Eine Liste über die Bücher, die ich – Redaktorin bei der «Südostschweiz» – gelesen habe, führe ich nicht. Aber ich weiss mit Bestimmtheit, dass es nur ein einziges Buch gibt, das ich dreimal von vorn bis hinten gelesen habe: «Die Shakespeare-Schwestern» von der Amerikanerin Eleanor Brown. Die Geschichte handelt von einer Familie mit drei erwachsenen Töchtern. Der Vater der drei Schwestern – sie heissen Rosalind, Bianca und Cordelia – ist Literaturprofessor, spezialisiert auf Shakespeare. Zuhause spricht er nicht viel, und wenn, dann nur in Shakespeare-Zitaten. Was anstrengend klingt, ist es auch. Seine drei erwachsenen Töchter gehen ganz unterschiedliche Lebenswege und finden sich alle wieder in ihrem Elternhaus ein, als die Mutter an Krebs erkrankt. Die drei Schwestern haben Erfolge gefeiert und sind gescheitert, wissen nicht so recht, wie es in ihrem Leben weitergehen soll, wollen unabhängig sein und sind es doch nicht.

Ich erkenne mich wieder

Jedes Mal, wenn ich das Buch lese, entdecke ich neue Handlungen und Charakterzüge, in denen ich mich wiedererkenne. Weil die drei Frauen so unperfekt sind und immer mal wieder an sich zweifeln, weil sie in kleinen Dingen Freude finden, weil es ihnen manchmal Mühe macht, über das zu sprechen, was sie am meisten beschäftigt, und weil sie gerne lesen. Die Shakespeare-Zitate, die Brown in den Roman einflicht, kann ich mir nicht merken. Aber das stört mich nicht. Browns Schreibstil ist fliessend und kurzweilig. Schade, dass der einzige Roman, den sie nach «Die Shakespeare-Schwestern» veröffentlichte, nicht an den Erstling herankommt.

Warum ich das alles erzähle? Weil ich immer dann, wenn ich ein gutes Buch lese, gerne mit jemandem darüber sprechen würde. Weil so viele Gedanken und Gefühle auftauchen, die nachhaltiger wirken würden, wenn ich sie mit jemandem teilen könnte. Weil ich sonst während des Lesens ein paar Tage lang mit den Protagonisten mitfiebere und in ihre Welt eintauche, nur um dann, wenn das Buch fertig ist, alles so schnell wieder zu vergessen.

Zurück zu den Buchbesprechungen?

In der Schule, da musste ich unzählige Buchbesprechungen schreiben. Oftmals über Bücher, zu denen ich keinen Bezug fand. Weil sie in Theater-Akten geschrieben waren, weil die Sprache alt und irgendwie hochtrabend war, weil die Themen fern unseres jugendlichen Alltags waren. «Woyzeck» von Georg Büchner zum Beispiel, oder «Faust» von Goethe. Ich habe mir all die Titel nicht gemerkt.

Aber jetzt wünschte ich mir manchmal, ich könnte eine Art individuelle Buchbesprechung machen. Mit jemandem, der dieselben Bücher mag wie ich. Geht das anderen Leuten auch so? Ich habe den Bündner Schriftsteller Arno Camenisch dazu befragt:

Welches Buch haben Sie zuletzt (nur) zu Ihrem Vergnügen gelesen?

«Messi, eine Stilkunde», ein Buch von Jordi Punti über den Fussballer Lionel Messi. 

Was haben Sie mit den Gedanken und Gefühlen gemacht, die beim Lesen aufgetaucht sind?

Ein Buch klingt bei mir immer nach, ich trage dieses Gefühl mit und denke darüber nach. Bücher bereichern das Leben. 

Was empfehlen Sie zu tun, wenn man ein Buch liest und sich gerne darüber austauschen möchte, es aber ziemlich kompliziert ist, alle ineinander verwebten Handlungen und Geschehnisse und vielschichtigen Charaktere jemandem zu erklären?

Ich rede gerne mit Freunden über Bücher, die ich oder wir gelesen haben. Die Frage, die mich dabei stets am meisten interessiert, ist, was ein Buch in einem auslöst. 

Haben Sie schon Bücher für sich entdeckt, die Ihnen jemand vorgeschlagen und davon erzählt hat – genau deshalb, weil er oder sie das Bedürfnis hatte, mit jemandem darüber zu sprechen?

Ja, das passiert oft, dass mir jemand von einem Buch erzählt, und es mich dann neugierig macht. Das ist auch das Schöne daran, Leseerlebnisse miteinander zu teilen und dies einem anregt und neugierig macht, das Buch zu lesen. Ich mag den Austausch über Bücher sehr, das hat für mich was Beglückendes. 

Gibt es ein Buch, das Sie schon mindestens dreimal gelesen haben, weil es Sie so fasziniert und Sie immer wieder neue Aspekte darin entdecken?

Das Buch «Novecento»* habe ich in den letzten zwanzig Jahren immer wieder mal gelesen, ich mag das Buch sehr. Ein gutes Buch ist wie die Fassade eines alten Gebäudes, an dem das Licht jeden Tag etwas anders bricht. Je nachdem, wo man im Leben steht, liest man ein Buch anders und es blitzen neue Momente und Aspekte auf.

*«Novecento» vom italienischen Autor Alessandro Barrico handelt von einem Findelkind auf dem Passagierschiff «Virginian» Anfang des 20. Jahrhunderts. Ein Maschinist kümmert sich um den kleinen Jungen und nennt ihn Novecento. Dieser entwickelt sich zu einem grossen Klaviertalent und sorgt für grosse Begeisterung bei den «Virginian»-Passagieren, betritt aber nie festes Land. Als das Schiff alt ist und verschrottet werden muss, steht für Novecento ein neuer Lebensabschnitt bevor.

Wie im Traum

«Bücher bereichern das Leben» sagt Camenisch. Wie wahr, finde ich und denke an all die gemütlichen Stunden auf dem Sofa, im Zug oder auf dem Liegestuhl zurück, in denen ich dank Büchern spannende und bereichernde Momente erlebt habe – egal, ob ich mich jetzt noch an die jeweilige Handlung oder gar an all die Buchtitel erinnern kann oder nicht.

Manchmal gibt es doch diese Momente, in denen man an einem fremden Ort steht, sich umschaut und denkt, «das kenne ich doch von irgendwo». Und wenn man nicht draufkommt, woher man es kennt, so war es von einem Traum. Oder von einem Buch.

Ende April ist der neuste Roman von Arno Camenisch, «Goldene Jahre» erschienen. Er handelt von zwei Frauen, die seit 51 Jahren einen Kiosk samt Zapfsäule und Leuchtreklame betreiben. RSO-Moderatorin Katharina Balzer hat mit Camenisch über die Sommerjobs in seinen Jugendjahren gesprochen. Verdiente er sein Taschengeld an einem Kiosk? Hört selbst:

Simone Zwinggi ist Redaktorin bei Zeitung und Online. Nach einem Sportstudium wendete sie sich dem Journalismus zu. Sie ist hauptberuflich Mutter, arbeitet in einem Teilzeitpensum bei der «Südostschweiz» und hält Anekdoten aus ihrem Familienleben in regelmässigen Abständen im Blog Breistift fest. Mehr Infos

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