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Arbeiten und zur Ruhe kommen

Arbeiten, sich bewegen und wohnen im selben Haus: Das Leben während der Coronakrise schränkt auch die Bewohner des Argo Wohnheims in Chur ein. Neben Umstrukturierungen im Alltag und strikten Vorgaben zur Pausengestaltung ist aber vor allem etwas zu spüren: Ruhe. Das schätzen die Bewohner genauso wie deren Familien.

Simone
Zwinggi
15.04.20 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit

Herr Guidon lebt in Zürich und ist «auch schon etwas älter», wie er sich selbst beschreibt. Trotz der Coronakrise hat er täglich Anlass, sich über etwas zu freuen, das ihm besonders am Herzen liegt: der Gemütszustand seiner Schwester Susanna. «Susanna ist 74, lebt bereits seit 37 Jahren im Argo Wohnheim* in Chur, und es geht ihr derzeit noch besser als sonst, als im `normalen` Alltag ohne Coronakrise.» Susanna, die sonst sehr stark auf Veränderungen oder unruhige Situationen reagiere, sei jetzt gelassen und lache oft herzlich. Zusammen mit seiner anderen Schwester, die er in Zürich pflegt, telefoniert Guidon jeden Tag mit Susanna. Der neue Alltag gebe ihr grosse Sicherheit, so Guidon.

Zu Beginn der Coronakrise habe er grosse Bedenken gehabt, erzählt Guidon. «So viele Leute, eingesperrt in einem Haus, und jeder hat eine andere Art von Beeinträchtigung, körperlich oder geistig. Da fragte ich mich schon, ob das gutgehen wird.» Und Guidon ist jetzt, nach rund einem Monat seit Beginn der verstärkten Massnahmen, erstaunt und erfreut. Das Team rund um Wohnheimleiter Gieri Murk erscheine ihm wie Gärtner, die jedes einzelne Pflänzchen sorgfältig hegten und pflegten, so Guidon. «Die Arbeit des ganzen Teams ist unbezahlbar. In meinen Augen sind diese Menschen jetzt die Helden des Alltags.»

Autonome Wohngruppen und eine Inhouse-Werkstatt

Murk freut sich über Aussagen wie jene von Guidon, bleibt aber ruhig und sachlich. Die aktuelle Situation sei sehr speziell und eine grosse Herausforderung, erzählt der Heimleiter. «Wir mussten den Alltag komplett umstrukturieren, haben im Besucherrestaurant eine kleine Werkstatt eingerichtet und gestaffelte Pausen eingeführt.» Die sieben Wohngruppen à sieben bis acht Personen würden jetzt alle autonom funktionieren, damit ein zu dichtes Miteinander verhindert und die Abstandsregeln eingehalten würden. Die grosse Werkstatt, wo üblicherweise Personen vom Wohnheim wie auch von extern zusammen arbeiteten, sei jetzt nur noch für die externen zugänglich, so Murk. Der Bewegungsradius jener Personen, die im Wohnheim leben, beschränke sich auf die Terrassen und die nächste Umgebung rund ums Haus. Nur ab und zu fahre ein Betreuer mit seiner Gruppe mal «ein Stückli» weg, um einen Spaziergang zu machen und die Natur zu geniessen.

Die Verpackungsarbeiten werden derzeit in der Inhouse-Werkstatt durchgeführt.
Die Verpackungsarbeiten werden derzeit in der Inhouse-Werkstatt durchgeführt.

Zu Beginn der Coronakrise sei sein ganzes Team darauf bedacht gewesen, keine Hysterie auszulösen, erklärt Murk weiter. «Wir mussten allen klar machen, was die jetzige Situation genau bedeutet, ohne dabei Angst auszulösen. Es gab auch solche, die nicht verstanden, weshalb sie nicht mehr in die Stadt gehen dürfen.» Einzelne Bewohner seien für die Zeit während der Coronakrise zu ihren Familien gezogen. Die Angst davor, dass sich das Coronavirus im Wohnheim verbreiten könnte, sei zu gross gewesen. «Dass wir regelmässig Kontakt zu diesen Personen haben, ist jetzt besonders wichtig», erklärt Murk. «Wir möchten verhindern, dass sie die soziale Bindung zu uns verlieren. Das wäre für die weitere Zusammenarbeit nicht gut.»

Quarantänemöglichkeit eingerichtet

Obwohl die Bewohner nur unter sich bleiben und nicht mit anderen Leuten in Kontakt kommen, besteht ein kleines Risiko, sich mit dem Coronavirus anzustecken, wie Murk erläutert. «Unsere Betreuer gehen ja nach der Arbeit nach Hause und kommen so mit der Aussenwelt in Kontakt.» Doch Murk ist zuversichtlich, dass alle weiterhin gesund bleiben. Und falls dennoch jemand erkranke, sei das Wohnheim «konzeptionell gut aufgestellt». Es gebe separate Räumlichkeiten – normalerweise von einer Wohngruppe genutzt – die für Verdachtsfälle bzw. Quarantänesituationen eingerichtet worden seien.

Wirtschaftlich schwieriges Jahr

Die Aufteilung der Arbeit auf die zwei Werkstätten – die provisorische und die übliche –, die Neugestaltung des Alltags, der grösstmögliche Schutz der Gesundheit aller Heimbewohner, aller Mitarbeiter und des Personals, all das sei mit grossem Aufwand verbunden, betont auch Geschäftsleiter Franco Hübner. Wie sich die ganze Situation auf die wirtschaftliche Lage der Argo Stiftung auswirke, sei noch nicht im Detail absehbar. «Im Moment ist unsere Auftragssituation in Ordnung. Es gibt Firmen, die ihre Aufträge zurückgezogen haben, andere, die mehr zu tun haben und auch uns mehr Aufträge erteilen.» Deutlich sichtbar werden finanziellen Auswirkungen wohl erst in ein paar Monaten sein, so Hübner. «Klar ist bis jetzt: Dieses Jahr wird wirtschaftlich schwierig.» Doch Hübner bleibt gelassen. «Das Wichtigste ist jetzt erst mal, dass unsere Heimbewohner, die Mitarbeiter und das Personal wohlauf sind. Alles andere wird sich weisen.»

Täglicher Dank ans Team

Gibt es denn neben all der Sorge um Ansteckungen, neben Umstrukturierungen und Abgrenzungen, auch Momente, die freudig stimmen? «Diese Ausnahmesituation hat ganz klar einen positiven Effekt auf unser Team», sagt Murk. «Die gegenseitige Akzeptanz und der Austausch sind grösser geworden, und ich spreche meinem Team täglich einen Dank aus, denn es leistet grossen Einsatz.» Er sei erstaunt, wie gut bis jetzt alles laufe, wie ruhig die Atmosphäre im Haus sei, und dass es bislang zwischenmenschlich nicht «gekriselt» habe, so Murk. Und noch einen positiven Effekt erwähnt Murk. Weil die Werkstatt jetzt im Wohnheim stationiert sei, erhalte er einen viel besseren Einblick in die Arbeitswelt seiner Klienten. «Ich wusste ja, welche Arbeiten sie verrichten, aber jetzt kann ich alles ganz nah mitverfolgen. Und ich muss sagen: Es ist ziemlich anspruchsvoll!»

* Die Argo betreibt Werkstätten und Wohnheime für erwachsene Menschen mit Behinderung in Graubünden. Ihre Standorte sind Chur, Ilanz, Davos und Surava/Tiefencastel. Weitere Informationen sind hier zu finden.

Simone Zwinggi ist Redaktorin bei Zeitung und Online. Nach einem Sportstudium wendete sie sich dem Journalismus zu. Sie ist hauptberuflich Mutter, arbeitet in einem Teilzeitpensum bei der «Südostschweiz» und hält Anekdoten aus ihrem Familienleben in regelmässigen Abständen im Blog Breistift fest. Mehr Infos

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möchte mich dem Lob und Dank anschliessen. Ich habe jemanden in der AWG Wiesental. Es gibt mir ein gutes Gefühl und Sicherheit, meinen Bekannten dort zu wissen. Ich bin froh, dass auch einmal über diese grosse Leistung der Betreuer mit Behinderten geschrieben wird.
Danke und weiterhin viel Kraft.
Ruth Buchli, Malans

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