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Obdachlose zu wenig im Fokus

Obdachlosigkeit ist in der Schweiz ein Thema, das nur selten beleuchtet wird. Nun ist eine Studie erschienen, die zumindest etwas Licht ins Dunkle bringt. Die Schweizer Politik erhält dabei keine guten Noten. Wir haben nachgefragt, wie die Obdachlosen-Situation in Graubünden aussieht.

Südostschweiz
30.01.20 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Die Notschlafstelle in Chur bietet verschiedenen Menschen in Not Unterschlupf.
Die Notschlafstelle in Chur bietet verschiedenen Menschen in Not Unterschlupf.
ARCHIV

Die Öffentlichkeit in der Schweiz weiss kaum etwas über Obdachlosigkeit und es gibt auch keine nationalen Zahlen, wie viele Menschen tatsächlich obdachlos sind. Zu diesem Schluss kommt ein erster nationaler Bericht zur Obdachlosigkeit von der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW.

Wie eine Nachfrage beim Sozialamt Graubünden zeigt, gibt es aber trotz der fehlenden schweizweiten Datenerhebung im Kanton Graubünden gewisse Anhaltspunkte, wie viele Menschen in etwa obdachlos sind. Amtsleiterin Susanna Gadient erklärt: «Gemäss dem Verein Überlebenshilfe Graubünden, der in Chur die einzige Notschlafstelle Graubündens betreibt und zudem Tagesstruktur und Verpflegung anbietet, wurden im vergangenen Jahr 689 Übernachtungen gezählt. Dabei handelte es sich um 75 verschiedene Personen, davon 6 Frauen.» Am häufigsten werde die Notschlafstelle in den Monaten Januar, März, August und November genutzt. In den Monaten Mai, Juni und Dezember wurden die wenigsten Übernachtung verzeichnet. «Eine Korrelation zwischen Jahreszeit und Anzahl Übernachtungen kann also nicht eindeutig festgestellt werden.»

Hauptgründe für Obdachlosigkeit

Gadient nennt verschiedene Situationen, welche zu einer Nutzung des Angebots des Vereins Überlebenshilfe Graubünden führen. Diese sind:

- Akute Notsituationen (Wohnungsverlust, Trennung, Partnerschaftskrise und so weiter – die Notschlafstelle wird in diesen Fällen meist nur einmal genutzt, jedoch in der Regel über längere Zeit)
- Finanzielle Armut/Suchtmittelabhängigkeit/Randständigkeit (Die Obdachlosigkeit besteht bei diesen Personen meist über längere Zeit, weil diese teilweise selbst gewählt ist – das Angebot der Notschlafstelle wird in diesen Fällen ein- bis mehrmalig genutzt, meist aber nur kurz, bspw. abhängig vom Wetter, der finanziellen Mittel oder der körperlichen Verfassung)
- Kurzfristige Aufenthalte in der Region (Durchreise, Arbeitssuche usw. – die Notschlafstelle wird im Normalfall einmalig für kurze Zeit genutzt)

Notschlafstelle weniger genutzt

Die Zahl der obdachlosen Personen hat sich gemäss den kantonalen Sozialdiensten und der Überlebenshilfe Graubünden in den letzten Jahren nicht im grossen Ausmass verändert. Für das Jahr 2019 war die Anzahl Übernachtungen in der Notschlafstelle deutlich geringer als in den Vorjahren. Waren es in den Jahren 2017 und 2018 noch über 1200 Übernachtungen, ging der Wert 2019 auf 689 Übernachtungen zurück. Die Anzahl Personen, die die Notschlafstelle nutzten, blieb aber konstant bei 75.

Sozialamt-Leiterin Gadient geht auch eher nicht davon aus, dass Obdachlose in andere Kantone abgewandert sind. Es gebe aber einige Personen, die sich innerhalb der ganzen Schweiz bewegen und an verschiedenen Orten übernachten oder Hilfsangebote in Anspruch nehmen würden. Im Bereich der niederschwelligen Angebote wie beispielsweise Notschlafstellen, Kontakt- und Anlaufstelle gibt es deshalb gemäss Gadient einen fachlichen Austausch zwischen Einrichtungen aus den verschiedenen Kantonen. «Zudem gibt es eine Zusammenarbeit in konkreten Einzelfällen. Dabei geht es zum Beispiel um eine Weitervermittlung an die Notschlafstelle im Herkunftskanton der obdachlosen Person», so Gadient. 

Rahmenbedingungen
Die Aufenthaltsdauer für Personen ohne Wohnsitz in der Schweiz ist in der Notschlafstelle in Chur auf drei Nächte pro Monat befristet, für Personen mit ausserkantonalem Wohnsitz ohne entsprechende Kostengutsprache ebenfalls. Für Personen, mit Wohnsitz im Kanton Graubünden gilt eine Befristung auf sieben Nächte, ausser es werden aktive Bemühungen für eine Anschlusslösung ausgewiesen.

Mängel bei der Politik

Die eingangs erwähnte nationale Studie bringt noch weitere interessante Dinge ans Tageslicht, die die Schweiz nicht in einem allzu guten Licht erscheinen lassen.

  • Die Politik kommt ihren internationalen Verpflichtungen nur teilweise nach und wird deshalb regelmässig ermahnt.
  • Der Bundesrat übergibt die Verantwortung zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit den Kantonen und Gemeinden und bewirkt damit einen Druck auf die urbanen Zentren, in die viele der wohnungslosen Menschen wandern. Mit urbane Zentren ist dabei Zürich oder im Fall von Graubünden Chur gemeint.
  • Die Städte konzentrieren sich auf die Nothilfe und überlassen zentrale Aufgaben ausserhalb der Überlebenssicherung nicht-staatlichen Initiativen, die sich mit Mühe finanzieren. Am Schluss können Obdachlose in der Schweiz in einzelnen Gemeinden auf eine Überlebenshilfe zugreifen, die aus dem Grundangebot Essen, Trinken und Übernachten besteht und für die sie teilweise auch noch bezahlen müssen.
  • Die Schweiz verfügt über keine Datenbestände in Bezug auf Obdachlosigkeit. Weder wurde bisher die Anzahl von Obdachlosen, noch diejenige der von Obdachlosigkeit möglicherweise betroffenen Personen schweizweit erfasst. Nun ist in den acht grössten Agglomerationsgemeinden eine Studie zu Ausmass, Erklärungen und Bedarf in Arbeit, die in diesem Bereich ebenfalls etwas Licht ins Dunkle bringen könnte. Diese Studie erscheint voraussichtlich 2021.

​​​​​​​(hin/kup)

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NOTSCHLAFSTELLE GRAUBÜNDEN Letzten Sommer hatte ich Gelegenheit die Notschlafstelle in Chur anzuschauen. Wenn ich die Verantwortung über die übernehmen müsste, würde ich sie sofort schliessen. Warum? 1. die Lage, an so einem Ort leben sonst nur Millionäre. 2. Sicherheit, wenn da ein Feuer ausbricht gibt es kein entkommen, für mein Verständnis ist dieses Gebäude für diesen Zweck absolut untauglich. Frau Gadient, ich hoffe, dass Sie Glück haben und da nichts passiert.

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