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Vom Wintereinbruch überrascht

Südostschweiz
25.12.19 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Draussen in der Winterkälte: Der Hirt mit seinen treuen Begleitern hütet die Herde.
Draussen in der Winterkälte: Der Hirt mit seinen treuen Begleitern hütet die Herde.
WERNER BEERLI

von Verena und Werner Beerli-Kaufmann

Vor langer Zeit wanderte ein alter Hirte mit seiner Schafherde, einem Grauesel mit Jungem und einem Bergamaskerhund durch die sternenklare Nacht. Es war Heiligabend. Frühmorgens waren sie von einem plötzlichen Wintereinbruch überrascht worden. Den ganzen Tag über hatte es geschneit, erst gegen Abend klarte der Himmel auf. Es war bitterkalt. Die spärlichen Gräser unter dem Schnee waren zu harten Eisstängeln erstarrt. Noch stand die Herde weit hinten im engen Tal.

Der Hirte sorgte sich: Wo soll ich diese Nacht mit meinen Schafen verbringen. Sie sind hungrig und erschöpft. Hier finden sie kein Futter! Denn ungeduldig scharrten die Tiere im gefrorenen Schnee. «Ich muss dringend in die Ebene hinunter», murmelte der Hirte vor sich hin, «zum Fluss, wo an den Ufern vielleicht noch Gras zu finden ist.»

Also machte sich der alte Mann mit seiner Herde auf, um an den Fluss zu gelangen. Dafür würden er und seine Tiere einen ganzen Tag benötigen. Zuerst aber musste er dringend ein Dach über dem Kopf suchen oder wenigstens einen Unterstand, Heu für die Schafe und ein Nachtlager für sich. Nach einer langen Weile erreichte die Herde ein Dorf. Nur noch in wenigen Häusern sah er Licht. Der alte Mann trieb seine Tiere weiter, zum Dorf hinaus, auf das Land der Bauern, wo es Ställe und, so hoffte er, eine Bleibe für sie gab. Ein Glück, dachte er, habe ich diesen Herbst die Schafe nicht scheren lassen. Als ob er eine Vorahnung gehabt hätte.

Jetzt schützte ihr dickes Fell die Tiere vor der bissigen Kälte. Auch der Hirte war gut gekleidet mit dem dicken Wollmantel, dem flauschigen Wollschal, dem breiten Filzhut und seinen gefütterten Stiefeln. So stapfte er der Herde voran durch den fast knietiefen Schnee. Es war schon nach zehn Uhr nachts, als er in der weiten Einöde ein Bauernhaus ausmachen konnte. Schon von weitem hörte er das laute Gebell des Hofhunds. Der Hirte liess sich davon nicht beirren. Als sich die Herde dem Haus näherte, ging in diesem ein Licht an. In einem Fenster war der Bauer zu erkennen, der durch die dunkle Nacht nur den Schimmer der Hirtenlaterne und die Umrisse der Schafe sehen konnte. 

Bevor noch der Hirte seinen Wunsch äussern konnte, kam ihm die Antwort des Bauern zuvor. «Scher dich zum Teufel, hier gibt es keinen Platz», brüllte dieser in die eiskalte Nacht hinaus und schlug das Fenster zu. Der erfahrene Hirte wunderte sich über eine solche Ungastlichkeit. Es wurde dunkler und kälter; zusehends schwand die Hoffnung auf ein Nachtlager. Die Herde stapfte weiter mit hängenden Köpfen dem Mann treu hinterher. Im Schlepptau der übermüdete Hund; nur die gutmütigen Esel liessen sich nichts anmerken.

Weiter zogen sie an einem Gehöft vorbei, das völlig im Dunklen lag. Niemand antwortete auf das Rufen des Hirten. Sie trabten weiter. Dann, in einiger Entfernung, erspähte der alte Mann durch die Finsternis ein Licht. Es drang aus der Stube der Witwe, die in diesem Bauernhaus wohnte. Mutig trat der Hirte zum Haus, klopfte an die Tür und bat um ein Nachtlager für sich und seine Tiere. Die Frau hatte ein gutes Herz. Ohne Umschweife bot sie für die Tiere den warmen Stall neben dem Haus an, wo diese sich an Heu und Rüben satt fressen konnten. Den Hirten aber bat sie in ihr Haus. Dort erhielt sein Hund die Reste aus der Küche; nur der Esel rief noch lange nach seinem Meister, bis er sich seinem Schicksal ergab. Derweil der Hirte nach einem einfachen Mahl bald in dem wohlig warmen Gästebett in einen tiefen Schlaf fiel. Er träumte vom Frühling.

Als der Mann erwachte, war es Weihnachtsmorgen. Feinster Duft von Kaffee und frischem Zopf zog durch das Haus seiner Gastgeberin. Dem Hirten kam es vor, als wäre ihm das Glück auf Erden zuteil geworden. Bald aber nach dem Essen bedankte er sich bei der Witwe und zog, frisch gestärkt und froh im Herzen, mit seinen Schafen weiter. Lange noch blickte die Frau dem Mann und der Herde nach. Am Abend erreichte der Hirte mit seinen Tieren die Ebene. Dort führte er sie an geeignete Futterplätze und an Waldränder mit geschütztem Nachtlager. Eines Morgens, als die Tage länger und die Sonnenstrahlen wärmer wurden, traf der alte Mann am Flussufer einen jungen, kräftigen Burschen. Auf die Bitte des Hirten, ihm behilflich zu sein, schloss sich dieser dem Mann und der Herde an.

Zusammen freuten sie sich am Sommer und an den prächtig gedeihenden Schafen. Doch schon früh kündigte sich der Herbst mit kräftigen Stürmen an. Die zunehmende Kälte und der nahende Winter liessen den alten Hirten vermehrt an die Witwe in ihrem warmen Bauernhaus denken.

An einem Morgen verliess er, einer Eingebung folgend, die Herde und machte sich auf, die Frau zu besuchen. Wieder musste er einen ganzen Tag gehen. Dann aber sah er sie von weitem schon. Sie stand im Türrahmen, ganz so, als ob sie auf ihn gewartet hätte. Als er näher kam, wurde ihm ganz eigenartig zumute. Er ging auf sie zu. Ohne Worte ergriff die Frau seine Hand und führte ihn ins Haus und in die Stube, wo der Tisch für zwei gedeckt war. Voller Verwunderung hielt er inne. Ruhig stand sie neben ihm. In ihren Augen zeigte sich ein Lächeln. Noch etwas benommen von dem unerwarteten Empfang versuchte der Hirte zurückzulächeln. Im selben Augenblick durchströmte ihn warmes Glück: Er war angekommen – Hoffnung und Traum waren Wirklichkeit geworden. Von nun an würde der junge Mann, der ihn bis jetzt als Gehilfe begleitet hatte, allein mit den Schafen, den beiden Eseln und dem Bergamaskerhund weiterziehen.

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