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Mystisches Marmorera

Vor 12 Jahren erlangte das Bündner Bergdorf Marmorera nationale Berühmtheit. Zu verdanken hat es dies dem gleichnamigen Film. Heute ist von dem Film im Dorf kaum mehr die Rede. Von der Tragödie in den Fünfzigerjahren hingegen schon.

31.10.19 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit

Ein kalter Herbstwind zieht durch Marmorera. Die goldgefärbten Lärchen schimmern durch den zähen Nebel. Kein Mensch ist an diesem Mittwoch in dem Bergdorf unterwegs. Wir klingeln, klopfen an Türen. Reaktionen kommen keine. Dabei leben in Marmorera durchaus noch Leute. Insgesamt 31, wenn man dem Internet Glauben schenken darf.

Gleich am Eingang des Dorfs erhebt sich das wohl berühmteste Gebäude von Marmorera. Auf dem grossen Haus prangt der Schriftzug «La Resistenza» - der Widerstand. Der Beschluss, Alt-Marmorera zu fluten, hat die damalige Gemeinde gespalten. Während einige Bewohner ihr Zuhause unterhalb des Stauwalls bezogen, bestanden die Widerständler darauf, sich oberhalb des alten Dorfs anzusiedeln. Dieses Neu-Marmorera gleicht heute mehr einer Bergsiedlung als einem Dorf. Neben «La Resistenza» erinnert auch der Friedhof an die tragischen Begebenheiten in den Fünfzigerjahren. Ein Blick auf die Gräber zeigt; einige Menschen waren nicht immer hier begraben. Tatsächlich wurden die Verstorbenen vor der Flutung des Dorfs exhumiert und in Neu-Marmorera ein zweites Mal bestattet.

Ausserhalb des Dorfes, direkt an der Kantonsstrasse, befindet sich ein kleines aber feines Restaurant mit bester Aussicht auf den Lai Murmarera. «Es kommen Auswärtige her und fragen, wo denn der Kirchturm sei, und zeigen auf den Stausee. Dabei hat hier niemals ein Kirchturm aus dem Wasser geschaut, das wurde damals ja alles abgebrochen», erzählt Marcello Virgolin, Wirt des Restaurants «Ustareia agl Lai Murmarera».

Sein Restaurant erlangte vor zwölf Jahren nationale Berühmtheit, spielen doch viele der Szenen im Film «Marmorera» vor und im Restaurant. Damals war Virgolin noch nicht Wirt des Restaurants. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Szenen wirklich in der Ustareia gedreht wurden. So dunkel wie im Film ist es hier drinnen nie», lacht er und deutet auf ein Fenster. «Die Leute kommen wegen dem See und der Natur her.» Nur ein kleiner Teil seiner Gäste spreche ihn auf den Film an. «Viele sind Durchreisende. Und natürlich die Bewohner von Marmorera. Auch Leute, die im alten, mittlerweile gefluteten Marmorera gelebt haben, essen oft bei mir», erzählt der Wirt. Diese Leute hätten auch heute noch Mühe, wenn sie den Stausee betrachten. Sie wurden damals beinahe gewaltsam entwurzelt und umgesiedelt. Man hat sie einfach zwangsenteignet. Im besten Fall. Seit Jahren halten sich nämlich Gerüchte, dass auch einige Menschen im alten Marmorera gestorben seien, weil sie nicht gehen wollten. Auch erzählt man sich im Dorf, dass bei Vollmond die Seelen dieser verunglückten Menschen jeden, der zu nahe am Wasser spazieren ginge, gnadenlos in die Tiefe ziehen würden.

«Daran glaube ich nicht», statiert Marcello Virgolin. Er gehe oft bei Vollmond am Wasser spazieren. Wegen der beruhigenden Wirkung. «Aber es herrscht definitiv eine spezielle Energie im Dorf. Auch hier, im Restaurant, ist diese Stimmung sehr gut spürbar. Wenn ein Gast eher feinfühlig ist, merkt er das ziemlich schnell.»

Diese spezielle Energie ist in und um Marmorera tatsächlich spürbar. Die Abwesenheit der Bewohner trägt definitiv dazu bei.

12 Jahre nach dem Film. Ein Besuch in Marmorera. VIDEO MARCO HARTMANN

Mara Schlumpf ist Redaktorin und Chefin vom Dienst bei «suedostschweiz.ch». Ursprünglich kommt sie aus dem Aargau, hat ihr Herz aber vor einigen Jahren an Chur verschenkt. Mehr Infos

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