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Brief an einen Dieb

Die Bündner Literaturpreisträgerin Angelika Overath ist in Chur bestohlen worden. Nun reagiert sie auf dieses Erlebnis. Sie fordert den Dieb auf, ihr seine Geschichte zu schreiben.

29.08.19 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Bestohlen: Angelika Overath ist Schriftstellerin und Journalistin.
Bestohlen: Angelika Overath ist Schriftstellerin und Journalistin.
PRESSEBILD

Ein Satz, den Angelika Overath mal in einem Interview gesagt hat, lautete: «Man soll immer über das schreiben, was man kennt.» Der «Brief an einen Dieb» passt nur zu gut zu dieser Haltung, denn Overath schreibt über ein Erlebnis, welches die meisten Menschen wohl lieber gleich wieder vergessen wollen würden. Ihr wurde das Portemonnaie geklaut.

Overath ist Journalistin und Autorin, und so hat sie einen eigenen Weg gefunden, um dieses unangenehme Erlebnis zu verarbeiten. «Es ist eine Brief-Erzählung, eine wahre Geschichte», schreibt sie als Anmerkung zum Text, den sie heute in der «Südostschweiz» veröffentlicht.

Von Tübingen nach Sent

Die Schriftstellerin, Dozentin und dreifache Mutter stammt aus Tübingen (Deutschland). Seit 2007 wohnen sie und ihr Mann, Literaturwissenschaftler Manfred Koch, in einem alten Engadinerhaus in Sent. Overath hat mehrere Prosawerke geschrieben, unter anderem das Engadin-Buch «Alle Farben des Schnees» und zuletzt «Ein Winter in Istanbul». Sie hat verschiedene Auszeichnungen erhalten, auch den Bündner Literaturpreis 2015. Dass das Schreiben für sie auch eine therapeutische Funktion haben kann, ist bereits seit ihrem Romandebüt «Nahe Tage» bekannt, der mit dem Tod der Mutter einsetzt.

Lieber Dieb

Am Samstag, den 17. August, hast du mir kurz nach 17 Uhr mein Portemonnaie gestohlen. Ich habe mir beim Coop Pronto im Churer Bahnhof ein Magnum-Eis (Mandel) gekauft und mit einer 100-Franken-Note bezahlt. Warst du der junge, grosse Mann, der dicht hinter mir stand? Ich dachte noch: Nein, ich lasse mich nicht drängeln, ich packe jetzt mein Portemonnaie wieder in Ruhe vorne in meinen kleinen schwarzen Beutelrucksack und mache den Reissverschluss gut zu. Dann habe ich meinen grossen blauen Rucksack vom Boden wieder auf den Rücken gehievt, den Beutelrucksack, den ich auf die Ablage unter der Kasse gelegt hatte, in die linke Hand genommen und die Plastiktüte und das Eis in die rechte. Und bin zu Gleis 10 gelaufen. Der Zug ins Engadin sollte 17.20 Uhr fahren. Ich stellte mein Gepäck an das Geländer oben bei der Treppe. Ich packte das Eis aus. Die Mülleimer waren etwa vier Meter weiter rechts. Ich bin dann ohne mein Gepäck zum Mülleimer gegangen, um das Eispapier wegzuwerfen.

Ich kaufe mir selten Eis, weil das viele Kalorien hat und ich immer denke, ich bin zu dick und sollte keine «leeren» Kalorien essen. Zucker und so. Als der Zug kam – das Eis war noch nicht aufgegessen –, nahm ich all mein Gepäck wieder vom Boden und stieg ein. Ich sitze immer gleich nach der Tür in der Dreier-Gruppe. Als ich die Plastiktüte und den Beutelrucksack auf das Polster stellte, sah ich, dass der Reissverschluss etwas offen war: Der Geldbeutel war weg, das Handy war noch da.

Ich rief meinen Mann an, er solle die Karten sperren lassen. Ich rief meine Freundin an, die dann später mit ihrer Tochter die Mülleimer am Bahnhof absuchte. Am Montag rief ich beim Fundbüro an: Nichts. Wie hast du das gemacht? Bist du mir nachgeschlichen und hast, als ich das Eispapier zum Mülleimer brachte, den Reissverschluss des Beutelrucksacks geöffnet? Aber der Bahnsteig war leer. Hast du also schon an der Kasse des Coop in den Beutelrucksack gegriffen, als ich mich bückte und überlegte, wie alles am besten zu transportieren sei? Jedenfalls warst du geschickt. Das muss ich dir lassen.

Gestern kam nun ein Mail vom Fundservice der SBB, mein «verlorener Gegenstand» sei wieder da. Aber ich habe bei den SBB keine Verlustanzeige aufgegeben. Ich wusste ja, dass ich das Portemonnaie nicht verloren hatte. Heute konnte ich den «verlorenen Gegenstand» am Schalter in Scuol abholen. Ich öffnete einen Papierumschlag mit SBB-Logo: Da war kein Portemonnaie drin. Aber alle mein Bankkarten, meine ÖKK-Karte, meine Supercard, mein Presseausweis.

Und wie hast du das gemacht? Hast du die Karten in einem Zug liegenlassen? Ist das nicht auffällig? Immerhin hast du dir wegen mir ein klein wenig Mühe gegeben. Du hast mir etwas weggenommen, das mir gehört. Damit bist du eine Beziehung zu mir eingegangen. Du hast die Karten zurückschicken lassen. Deshalb schreibe ich dir. Ich war mit meiner Freundin in Chiavenna gewesen, mit dem Auto. Auf dem Rückweg zog das Auto nicht mehr richtig, und es roch nach Benzin. Wir kamen knapp die steilen Serpentinen des Maloja-Passes hinauf. Oben hielten wir bei einer Tankstelle. Mit dem Öffnen der Motorhaube war die Sache klar: Ein Marder hatte ein Loch in den Abzugsschlauch gefressen. Obwohl Samstag war, hat ein freundlicher Mechaniker den Schaden so weit behoben, dass wir es bis Chur schaffen sollten. Ich wollte meine Freundin begleiten. Man weiss ja nie. Ich habe ein GA; Züge sind mein Büro.

In Chiavenna waren wir auf dem Samstagsmarkt gewesen und ein wenig bummeln. Ich habe meinem Sohn ein Angelmesser gekauft, meinem Mann Boxer-Shorts. Und Käse und selbst gemachte gefüllte Ravioli. In einem Schaufenster habe ich Frottee-Handtücher gesehen mit einem Bären drauf. Ich habe überlegt, ob ich für meinen Mann und mich zwei dieser Handtücher kaufen sollte, für die Sauna, ein dunkleres in Kaffeebraun für ihn, ein helleres in Sandbraun für mich. Die Handtücher waren schön und von guter Qualität. Aber sie kosteten 40 Euro; das war mir dann doch zu teuer. Als mein Geld gestohlen war, dachte ich, ich hätte die Handtücher doch kaufen sollen. Und dann dachte ich, wer weiss, was du mit dem Geld gemacht hast. Wir brauchen ja eigentlich keine neuen Handtücher. Aber vielleicht hast du das Geld für etwas gebraucht, das für dich wichtiger war.

Es war Churer Fest. Brauchtest du deshalb Geld? Was hast du dir gekauft? Ein halbes gegrilltes Hähnchen, ein Bier, zwei Biere? Oder bist du drogenabhängig und brauchst deshalb viel Geld? Ich trinke fast jeden Abend Wein. Aber ich kann ihn mir leisten. (Wir kaufen den Wein oft bei Denner.) Kannst du dir nicht leisten, was du brauchst? Stiehlst du deswegen? Oder machst du es als Mutprobe? Weil du den Kick willst? Ich schreibe dir, weil mich das tatsächlich interessiert. Wenn du der grosse junge Mann hinter mir in der Schlange warst, dann könntest du vom Alter her mein Sohn sein. (Ich bete zu einem Gott, an den ich nicht glaube, dass mein Sohn nicht stiehlt. Dass er, wenn er Geld braucht, mit uns drüber spricht. Aber was weiss man schon von seinen Kindern.) Ich finde es nicht richtig zu stehlen. Aber das ist auch ein naiver Satz. Ich kann ihn leicht sagen, denn ich kann mir alles kaufen, was ich wirklich brauche. Wie ist das bei dir?

Bevor ich mit meiner Freundin in Chiavenna war, habe ich eine Reise durch die Südost-Türkei gemacht, du weisst, Kurdengebiet. Das türkische Mesopotamien. Wir waren in Malatya, Adiyaman, sind nach Süden an die syrische Grenze nach Urfa, dann nach Mardin, Diyarbakir, Gaziantep. Das sind nicht wirklich touristische Gebiete. Ich habe in Hotels geschlafen, in denen die Türen kaum abzusperren waren. Ich hatte meinen PC dabei und auch drei 100-Euro-Scheine, die, wenn ich durch die Städte zog, im Rucksack im Hotel blieben. Mir ist auf der ganzen Reise nichts abhanden gekommen. Mir ist auch sonst nichts passiert. Das dachte ich, als ich dann auf dem Churer Bahnhof bestohlen wurde. Der eine 100-Euro-Schein, der in meiner Geldbörse war, den du noch besitzt oder schon ausgegeben hast, war von dieser Reise zurückgekommen. In all diesen Städten habe ich syrische Flüchtlinge gesehen. Oft waren es Frauen, die am Boden hockten, Säuglinge auf dem Schoss. Manchen habe ich etwas gegeben; anderen auch nicht. Wann ist man berührbar?

Weisst du was, ich schenke dir das Geld: Jetzt! Ich bin Reporterin, Schriftstellerin, Mutter von drei Kindern. Mich würde deine Geschichte interessieren. Als kleine Gegengabe. Mich würde interessieren, was du denkst. In meiner Geldbörse, im Fach, wo das Kleingeld ist, waren zwei Dinge, die man nicht erfinden und nicht erraten kann. Wenn du mir schreibst, erwähne doch eines davon. Dann weiss ich, dass du wirklich mein Dieb bist. Wenn du mir nicht traust, schreibe anonym, ohne Absender.

Ich glaube nicht, dass sich Täter und Opfer immer so klar scheiden lassen. In jedem Opfer steckt auch ein wenig eine Täterin. Und umgekehrt. Oder was meinst du dazu? Wir leben in einem Rechtsstaat; das garantiert keine Gerechtigkeit.

Ich würde gerne etwas von dem lesen, was du zu erzählen hast.

Angelika Overath

Fadrina Hofmann ist als Redaktorin für die Region Südbünden verantwortlich. Sie berichtet über alle gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Themen, die in diesem dreisprachigen Gebiet relevant sind. Sie hat Medien- und Kommunikationswissenschaften, Journalismus und Rätoromanisch an der Universität Fribourg studiert und lebt in Scuol im Unterengadin. Mehr Infos

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