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Der Hauswart von Burg Haselstein

Mehr als ein Dutzend Burgruinen hat der einstige Archäologiestudent Felix Nöthiger in seinem Leben gesichert. Seine eigene hat er wieder aufgebaut – so wie sie vielleicht einmal gewesen ist.

Ruth
Spitzenpfeil
31.05.19 - 16:03 Uhr
Leben & Freizeit

Der Kamin zieht ordentlich; dafür hat der Hausherr beim Bau gesorgt. Grosse Buchenscheite verbrennen prasselnd und erhellen die unmittelbare Umgebung. Sonst nur Kerzen auf dem wuchtigen Tisch. Durch die zwei Fensterscharten dringt kaum Licht. Hier also soll unser Gespräch stattfinden. Felix Nöthiger verbindet die Begrüssung im «Kleinen Saal» der Burg Haselstein gleich mit einer kleinen Lektion in mittelalterlicher Alltagskunde. «Wären Sie Ende des 13. Jahrhunderts hier gewesen, hätten an einem gewöhnlichen Wochentag sicher keine Kerzen gebrannt.» Er zeigt ein kleines Talglämpchen, wie es die ersten Bewohner vermutlich benutzt hatten. «Am liebsten nahm man Hammelfett, das stank weniger», weiss der Experte.

Die Besucherin ist froh, überhaupt einen Fuss über die Schwelle dieses Bauwerks setzen zu dürfen, das bestimmt einmalig ist in Graubünden. Denn Journalisten gehören nicht gerade zu den von Nöthiger besonders geschätzten Berufsgruppen. Bei seinem jahrelangen Einsatz um die Rehabilitierung der Mitglieder der 1940 gegründeten geheimen Widerstandsorganisation der Schweiz, habe er mit der Sorgfalt der Medien sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Schon ein Minuspunkt für die anklopfende Redaktorin. Doch es sollte ja vor allem um die Burg gehen und seinen ganz persönlichen Zugang zum Mittelalter. Und da beweist der Herr von Haselstein schliesslich doch noch ritterliche Tugenden. Er belohnt die Hartnäckigkeit und gibt der Vertreterin der schreibenden Zunft die Chance zu beweisen, dass es auch anständig geht. Nachdem die Bedingungen geklärt sind, beginnt ein unterhaltsamer Nachmittag.

Vor 700 Jahren zerfallen

Wir sitzen hier also auf einer Burg. Fährt man auf der A13 Richtung San Bernardino aus den Tunneln der Viamala, liegt sie links oben. Burgen am Hinterrhein sind nun wirklich nichts Ungewöhnliches. Diese hier aber schon. Die beiden Fensterlein in diesem Raum, aus denen hat ziemlich sicher auch schon im Mittelalter jemand geschaut. Aber die Decke, von welcher der mächtige Leuchter hängt, die ist noch keine 50 Jahre hier. Auch die anderen Stuben und Kammern mit ihren Wandtäfern, Kassettendecken, Malereien und Schnitzereien wurden nicht von den Herren von Reischen in Auftrag gegeben.

Dieses Bündner Geschlecht, Dienstleute des Bischofs und Landesherrn, war trotz seines bescheidenen Standes sehr baufreudig. In gut hundert Jahren baute es in und über Reischen nicht weniger als drei Burgen. Um mehr Wohnkomfort zu haben – etwa den ebenerdigen Zugang in die Burg – gab Heinrich von Reischen 1273 den erst wenige Jahrzehnte alten Turm Reischen jenseits des Tobels auf und baute seine zweite Burg Reischen, die erst als Ruine den Namen Haselstein erhielt. Nach gut achtzig Jahren stürzte in der Mitte des 14. Jahrhunderts nach langen Regenfällen der fundamentlose Südpalas ein. Die beschädigte Burg wurde aufgelassen, die Familie wollte in ihr Dorf zurück und baute dort ihre dritte Burg. Das einst stattliche Gemäuer von Haselstein zerfiel. Was wir heute als Burg Haselstein sehen, samt Zinnen, Wehrgang und Kapelle – es ist der sorgfältige Wiederaufbau Nöthigers.

Der 75-Jährige erinnert sich noch genau, als er im Jahr 1967, an seinem 24. Geburtstag, zum ersten Mal an diesen Ort kam: «Es war eine Magerwiese mit Mauerresten – und einer umwerfenden Aussicht.» Doch der junge Lehrer, der damals an der Universität Zürich Archäologie studierte, wusste aus dem Bündner Burgenbuch von 1930, dass hier einmal eine gegliederte Anlage gestanden hatte. Auf jeden Fall sah Nöthiger hier eine Chance, seinen Bubentraum einer eigenen Burg wahr zu machen.

Nachgebaut hat er die Burganlage so, wie wenn die Herren von Reischen nie gegangen wären.

Doch zuerst stand sein wissenschaftliches Studium im Vordergrund. Der Grabungsbericht der Ruine sollte seine Lizenziatsarbeit werden. Es gelang ihm tatsächlich, das Land von einer Bäuerin zu kaufen, und auch eine regierungsrätliche Grabungsbewilligung erhielt er. Mit dem Studienabschluss wurde es dann zwar nichts, denn da kam ein verlockendes Stellenangebot der Militärdirektion dazwischen, das später zu einer interessanten Karriere in der Sicherheitsbranche führte.

Doch jährlich nahm er unbezahlten Urlaub, damit er an seinen Ruinen arbeiten konnte. Inzwischen waren es nämlich schon vier Baustellen geworden, auf denen sein Ruf als der versierte Spezialist für die Sicherung der zerfallenden Kulturgüter Graubündens ihren Anfang nahm. Unterdessen hat er mit eigener Hand fünfzehn Burgen dauerhaft gesichert, seine sechzehnte Burgenbaustelle liegt im Sarganserland. Die Burgenvereine Graubünden und Domleschg und die schweizweit tätige Kulturinstitution Pro Castellis wurden von ihm gegründet und jahrzehntelang geführt..

Schon bald nach dem Kauf entschloss er sich, auf Haselstein nicht nur zu graben und zu forschen, sondern aufzubauen. Aus dem Grabungsbefund mit allen Fundamenten und Torschwellen liess sich die Burg rekonstruieren, aus den Schuttmengen die Gebäudehöhe ermitteln. 1972 begann er mit der Rekonstruktion auf dem alten Grundriss. Es waren die freiheitlichen Zeiten, als es in Zillis weder Bauordnung noch Zonenplan gab. «Der Boden gehört dir, also kannst du bauen», habe ihm der Zilliser Gemeindepräsident damals gesagt. Das tat er dann auch.

«Es war eine Magerwiese mit Mauerresten drauf.»

Von alten kroatischen Maurern lernte er den Umgang mit dem Stein, er fand den zur Burg gehörenden Tuffsteinbruch, zimmerte viel selbst und baute mit Freunden, was das Zeug hielt. Nein, es sei kein Bau nach der reinen Lehre der experimentellen Archäologie, gibt er zu. Er habe durchaus mit modernen Werkzeugen, Maschinen und Baustoffen gearbeitet. Aber das Setzen des mittelalterlichen Mauerwerks sei noch reines Handwerk, Stein für Stein. Nachgebaut hat er die viergeschossige Burganlage im Stil sich folgender Bauweisen – wie wenn die Herren von Reischen nie gegangen wären.

Zur Jahrtausendwende stand Burg Haselstein wieder da. Auch wenn Felix Nöthiger seinen Hauptwohnsitz und das Bürgerrecht im Schams hatte, war er beruflich stets im Unterland und international engagiert. Haselstein wurde zum Zentrum einer Burgenbewegung, die immer weitere Kreise zog – und zum Ort fröhlicher Anlässe und gediegener Serenaden. «Wir haben hier früher grössere Feste gefeiert», erinnert er sich. An seinem 60. Geburtstag etwa hätten sich mehr als 160 Gäste in Renaissance-Kostümen amüsiert, es habe Fechtturniere gegeben und auch sein Faible für die mittelalterliche Artillerie sei auf ihre Rechnung gekommen, erzählt er. Doch, dass er auf der Burg «mit seiner Familie wie im Mittelalter gelebt» habe, wie es schon in der Zeitung stand, das stimme so nicht. Nöthiger war ein Leben lang Junggeselle. Bis er dann «auf geheimnisvolle Weise» mit 65 doch noch Vater einer Tochter geworden sei. Die Zehnjährige hänge sehr an ihrem alten Papa, habe eine innige Beziehung zur Burg und zu den davor weidenden Ziegen.

Offen für die Schamser

Zum Schluss muss der Herr von Haselstein aber noch etwas Wichtiges klarstellen: Er sei hier nicht Burgherr, sondern nur Hauswart. Damit der Betrieb von Haselstein als nicht kommerziell ausgerichtete Kulturburg auch nach seinem Tode langfristig gesichert sei, habe er den Übergang an Pro Castellis 2006 abgeschlossen. Dazu gehören heute 33 Baudenkmäler in vier Kantonen, die der Öffentlichkeit dienten. In Graubünden sind es neben der Talsperre von Juvalt die Burgen Haselstein und Friedau in Zizers, die gerade eingerichtet wird. Dazu Festungen am Hinterrhein und in Maloja.

Nöthiger habe sein ganzes Leben in den Dienst der Rettung bedrohter Baudenkmäler gestellt, sagt er, davon sei ein halbes Jahrhundert ehrenamtlicher Arbeit für Graubünden. Im «glücklichen Zustand völliger Vermögenslosigkeit» sei er rundum zufrieden, Tag für Tag an seinen Burgen in Zizers und im Sarganser- und Glarnerland arbeiten zu können – und als Hauswart auf Haselstein dafür zu sorgen, dass nach seinem Tod alles so bleibe, wie es ist. Gerade sucht er einen Verwalter, der ihn nach der Einarbeitung ablösen kann. Die Schamser Bevölkerung soll auch dann willkommen sein, hier gratis Hochzeiten, Taufen oder Klassenzusammenkünfte abzuhalten. Noch einmal werde Haselstein nicht einstürzen.

Die weiteren Schlösser mit allen Bildern hier im Dossier.

Ruth Spitzenpfeil ist Kulturredaktorin der «Südostschweiz» und betreut mit einem kleinen Pensum auch regionale Themen, die sich nicht selten um historische Bauten drehen. Die Wahl-St.-Moritzerin entschloss sich nach einer langen Karriere in der Zürcher Medienwelt 2017, ihr Tätigkeitsfeld ganz nach Graubünden zu verlegen. Mehr Infos

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