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«Die 100 war einfach plötzlich da»

Unsere Lebenserwartung steigt stetig. In einigen Jahren wird es keine Seltenheit mehr sein, 100-jährige Menschen anzutreffen. Heute sieht es jedoch noch etwas anders aus. Eine Bündnerin erzählt, wie es ist, seit über 100 Jahren auf der Welt zu sein.

Corinne
Raguth Tscharner
06.05.19 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit

«Ich wollte damals unbedingt ein rotes Kleid haben und habe es auch bekommen», sagt Alice Vonmoos und blickt mit einem Lächeln auf das kleine Fotoporträt, das vor ihr an der Wand hängt. Es ist eines von insgesamt nur drei Bildern, die ihr helles Zimmer im Seniorenzentrum Rigahaus in Chur zieren. Die rote Farbe, auf die Vonmoos auch heute noch stolz ist, ist jedoch nicht zu sehen. Das Foto ist schwarz-weiss, stammt aus dem Jahr 1934 und zeigt eine 16-jährige Alice mit langen, geflochtenen Haaren bei ihrer Konfirmation.

Heute sind die Haare von Alice Vonmoos kürzer und grau. Sie sitzt auf ihrem alten, hellgrün bezogenen Lieblingsstuhl am Fenster und trägt eine Bluse - in verschiedenen Rottönen. «Hier sitze ich immer», sagt sie mit einem glücklichen und zufriedenen Gesichtsausdruck. «Und mir geht es ausgesprochen gut. Nur sehe ich nicht mehr so gut.» Deshalb stört sie auch die Grossbaustelle vor ihrem Zimmerfenster nicht. «Ich sehe sie ja sowieso nicht wirklich», meint sie scherzhaft.

Die Geräusche der Baustelle, ein dumpfes Hämmern, begleiten Vonmoos Stimme aber, als sie von der grossen Feier zu ihrem 100. Geburtstag berichtet. «Wir waren in der Cafeteria und es waren sehr viele Verwandte da. So viele, dass ich an diesem Tag wahrscheinlich nicht einmal alle gesehen habe.»

Noch ist es ein kleiner auserwählter Kreis

Den 100. Geburtstag zu feiern, ist aber ziemlich exklusiv, denn nicht viele Menschen erreichen dieses Alter. In Zukunft wird sich dies aber voraussichtlich ändern. Laut der Nachrichtenagentur «sda» darf jedes vierte Mädchen mit Jahrgang 2017 damit rechnen, dereinst hundert Geburtstagskerzen ausblasen zu können.

Alice Vonmoos konnte im März dieses Jahres mittlerweile sogar zum 101. Mal Geburtstag feiern. Sie gehört damit zu den durchschnittlich rund 1,7 Prozent der Schweizer Frauen ihrer Generation, welche die 100er-Marke knacken. «Ich habe nie daran gedacht, so alt zu werden», meint Vonmoos und legt ihre Hand ans Kinn, eine Geste, die sie während des Erzählens oft macht. «Die Jahre sind einfach so vergangen und die 100 war plötzlich da.»

«Einsam gefühlt habe ich mich nie»

In den 101 Jahren, in denen Alice Vonmoos auf der Welt ist, hat sich vieles verändert. Und das manchmal ziemlich schnell. An viele grosse Wendungen in der Weltgeschichte erinnert sie sich nicht mehr wirklich und technische Entwicklungen hat sie so gut wie immer aussen vor gelassen. «Ich war auch nie technisch begabt» sagt sie mit einem Lachen. Sie schaue kein Fernsehen und habe niemals ein Auto gelenkt. Stattdessen las sie stets viel, wanderte und spazierte gerne. Das könnte mit ein Grund sein, weshalb das Gold-umrahmte Bild, das neben ihr an der Wand hängt, eine Frau zeigt, die mitten im Grünen, einsam einen Feldweg entlang geht.

Kinder hat Vonmoos keine und folglich auch keine Enkel. «Und ich hatte auch nie eine wirklich enge Freundin», sagt sie und man erwartet ein Schulterzucken, das aber nie kommt. Einsam gefühlt, habe sie sich jedoch nie und auch jetzt freue sie sich, im Rigahaus ein Einzelzimmer zu haben.

Kein Geheimrezept

«Mein Leben verlief wunderbar. Ich bin zufrieden. Ich hatte Glück», sagt Vonmoos. Ein Geheimrezept, wie man 100 werde und dabei so gesund bleibe, habe sie nicht. Viel Bewegung sei wichtig. Und auf nichts zu verzichten, aber alles in Massen zu geniessen. «Alle die ständig nur denken ‘das ist nicht gut für mich, das ist auch nicht gut, das ist aber gut’, die werden nicht alt.»

An diesem Rat muss etwas dran sein. Alleine schon, weil Alice Vonmoos mit 101 Jahren noch so lebhaft und zufrieden von ihrem Leben erzählen kann - auf ihrem grünen Lieblingsstuhl am Fenster, vis-a-vis dem dritten Bild in ihrem Zimmer im Seniorenheim. Ein Foto, das Vonmoos in einem asiatischen Kleid zeigt, das ihr Onkel von einer Reise in den Osten mitgebracht hatte. Ob das Kleid rot war, kann Vonmoos heute, 97 Jahre später, nicht mit Sicherheit sagen. Reisen hat sie aber ebenfalls viele gemacht. «Und das war jeweils die prägenste Zeit in meinem Leben.»

Corinne Raguth Tscharner ist stellvertretende Chefredaktorin Online und Zeitung und Chefin vom Dienst bei «suedostschweiz.ch». Zuvor erlernte sie das journalistische Handwerk als Volontärin in vier verschiedenen Redaktionen (Print, Online, Radio, TV) und war als Online-Redaktorin tätig. Mehr Infos

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