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Der rote Schlossherr öffnet die Türen

Alt Nationalrat Andrea Hämmerle erklärt, warum es für einen linken Politiker O.K. ist, auf einer Burg zu wohnen. Schliesslich hat er Schloss Rietberg geerbt und dafür gesorgt, dass es mit Leben gefüllt ist.

Ruth
Spitzenpfeil
30.01.19 - 11:32 Uhr
Leben & Freizeit

So richtig Eindruck macht das Schloss Rietberg eigentlich nur, wenn man sich ihm über die Wiesen von Norden her nähert, etwa auf der Wanderung vom Canovasee. Da erheben sich die trutzigen Mauern und der mächtige Turm über dem dunkel bewachsenen Almensertobel und es sieht aus, wie eben eine Domleschger Burg so auszusehen hat. Das einst herrschaftliche Anwesen thront nicht weithin für alle sichtbar über dem Tal wie Ortenstein oder Rhäzüns – und das ist Andrea Hämmerle ganz recht. «Natürlich wurde ich früher oft ‘angezündet’: der rote Schlossherr», erinnert sich der SP-Politiker, der 20 Jahre lang, von 1991 bis 2011, im Nationalrat sass. «Aber das hat mich nie gross gestört.»

Der Jurist als Biobauer

Nimmt man vom Dorf Pratval die offizielle Zufahrt, fällt zuerst die lange Mauer auf, welche eine Obstwiese – alles Hochstämmer – umfasst. Der Biobauernhof, der zum Schloss gehört, wird heute von Hämmerles Sohn Fidel geführt. Den Betrieb hatte der Vater zusammen mit seiner Frau Ursi Anfang der Achtzigerjahre selbst auf biologische Anbaumethoden umgestellt. Er sei da Pionier gewesen in Graubünden, sagt der heute 72-Jährige und bezüglich Landwirtschaft ein Amateur. Denn Andrea Hämmerle ist eigentlich promovierter Jurist. Die Wende kam, als der Pächter altershalber aufhörte, der das zum Schloss gehörige Land bewirtschaftet hatte. «Da wollten wir es lieber selbst machen, als diese halb-feudalen Verhältnisse weiterzuführen», erklärt der Quereinsteiger.

Das ist einer der Gründe, warum Hämmerle als Schlossbesitzer in Graubünden so ungewöhnlich ist. Den anderen sehen wir, als wir durch das Steintor an der Südseite in den Schlosshof treten. Um uns ein Ensemble höchst unterschiedlicher Baustile, vom mittelalterlichen Wehrturm bis zu dem als moderne Loftwohnung ausgebauten Stall. Und an praktisch allen Eingängen sind gleich mehrere Klingelknöpfe und Namensschilder angebracht. «Es ist im Grunde ein Mehrfamilienhaus», meint der Politpensionär, der selbst nur noch einen Teil des rechts vom Turm liegenden Trakts aus dem 17. Jahrhundert bewohnt.

Es ist gar nicht so leicht durchzublicken bei den Erklärungen, wer nun wo zu Hause ist, was vermietet wird, und wem welcher Teil gehört. Auf dem Areal mit dem eigentlichen Schloss, den zwei ehemaligen Pächterhäusern und verschiedenen Ökonomiegebäuden leben heute rund 20 Personen in einem Dutzend Wohneinheiten. Eigentümer sind Hämmerles, seine zwei Cousins und eine Cousine. Ein auf Stilreinheit bedachter Kunsthistoriker rauft sich vermutlich die Haare. Aber dass an dem Anwesen immer wieder herumgebaut, hinzugefügt und umgenutzt wurde, entspricht ganz der Tradition von Rietberg. Über die Jahrhunderte gab es dauernd Veränderungen bei einen munteren Wechsel von Schlossherren; eine Zeit lang teilten sich sogar die Salis und Planta den Besitz. Das Märchenschloss aus einem Guss, wo ein einsamer Prinz durch weite Flure streift, war Rietberg nie. Einen Rittersaal gab es zwar schon, doch darin war lange eine Arztpraxis untergebracht, und er ist heute als grosszügige Wohnküche restauriert.

Die heimliche Dynastie

Auch in seiner Wohnung führt uns Hämmerle zuerst in die Küche. Am prächtigen Holzherd, den sein Urgrossvater – «ein Modernist» – um 1900 einbauen liess, kommen wir der Geschichte seiner Vorfahren auf Rietberg näher. «Ich war bereits der vierte Nationalrat in meiner Familie», verrät er und fügt grinsend hinzu: «Zum Glück hiessen die anderen drei alle nicht Hämmerle; sonst hätte es den Ruch einer Dynastie». Die ersten Rietberger Volksvertreter in Bern trugen den Namen Casparis und so hiess auch der Mann, der das Schloss 1822 für seine beiden Söhne erworben hatte. Dieser Christian Casparis war Pfarrer in Donat.

«Schon seltsam: Wie kommt ein Pfarrer vom Schamserberg zu solchen Mitteln?», fragt sich der Nachkomme heute. Den Stammbaum nicht einfacher macht die Tatsache, dass bei den Casparis immer alle Söhne entweder Christian oder Johann Anton hiessen. Der erste Johann Anton Casparis war Hämmerles Ururgrossvater und sass von 1872 bis 1875 im Nationalrat, dessen Sohn, ebenfalls Johann Anton Casparis, von 1893 bis 1896. Danach ging die Linie auf Rietberg weiter mit dessen Tochter Maria Virginia, Hämmerles Grossmutter, die einen Rudolf Planta heiratete. Auch der war politisch höchst aktiv, von 1939 bis 1943 Nationalrat und von 1942 bis 1950 Regierungsrat.

Bei den Hämmerles wird heute in der gemütlichen Küche gegessen, wo ein moderner Holztisch bestens zum bunten Muster der Bodenfliesen passt, die der fortschrittliche Urgrossvater einst angeschafft hatte. «Als ich ein Kind war, assen wir immer zu viert im riesigen Speisezimmer nebenan», erinnert sich Hämmerle. Sein Vater war jung gestorben, und er wuchs hier mit der Mutter und den Grosseltern in durchaus noch recht herrschaftlichen Verhältnissen auf; man hatte zwar keine Bediensteten mehr, aber um die Landwirtschaft kümmerten sich Pächter. Heute ist aus dem Raum mit der Stuckdecke und den Jugendstiltapeten das modern eingerichtete Arbeitszimmer der Hämmerles geworden.

Der Erbe gibt sich betont bodenständig und pragmatisch. «So wie wir leben, das ist Lichtjahre entfernt von den Verhältnissen auf den anderen Bündner Schlössern in Privatbesitz», stellt er fest. Diese etwas abgehobene Szene sei ihm ziemlich fremd, und er mag auch nicht in den Chor einstimmen, was das historische Eigentum doch für eine Last sei, und was man alles auf sich nehme, um es für die Nachwelt zu erhalten. Es sei nur die Frage, wie man sich organisiere und vernünftig investiere. «Natürlich könnte man Millionen reinbuttern; das muss aber nicht sein.»

Schloss Rietberg Pratval Andrea Hämmerle Ursula
Hier hat Jürg Jenatsch am 25. Februar 1621 den Pompejus Planta ermordet. Mit diesem Beil?
OLIVIA ITEM

Der Planta-Mord

Zum Schluss geht es natürlich noch in den Turm – nicht zu den berühmten Fledermäusen; die hängen nur im Sommer zu Hunderten an der Decke im obersten Stockwerk. Doch auf dem Weg dorthin kommen wir am Schauplatz eines der berüchtigtsten Mordfälle der Bündner Geschichte vorbei. Der Schriftsteller Conrad Ferdinand Meyer hatte sich um 1875 extra einige Tage bei Hämmerles Ururgrossmutter einquartiert, um den historischen Ort in sich aufzunehmen. Vielleicht seit dem Erfolg des danach entstandenen Romans «Jürg Jenatsch» steht sie da, die Axt. Es soll die sein, mit der an dieser Stelle der Pompejus Planta vom späteren Freiheitshelden erschlagen wurde. Es ist nur ein enger Durchgang. Planta – übrigens aus einer anderen Linie wie Hämmerles Grossvater – versteckte sich im Kamin, wo ihn sein winselnder Hund aber verriet. Wir sehen das Kreuz, das Plantas Diener in die Wand ritzte und Rache schwor. Meyer erfand dafür Plantas Tochter Lucrezia, die Jenatsch im Roman mit dem gleichen Beil an der Churer Fasnacht den Schädel spaltet. Das Beil ist ziemlich sicher keine 400 Jahre alt. Aber so viel Mythos lässt auch Realist Hämmerle gerne zu.

Die weiteren Schlösser mit allen Bildern hier im Dossier.

Ruth Spitzenpfeil ist Kulturredaktorin der «Südostschweiz» und betreut mit einem kleinen Pensum auch regionale Themen, die sich nicht selten um historische Bauten drehen. Die Wahl-St.-Moritzerin entschloss sich nach einer langen Karriere in der Zürcher Medienwelt 2017, ihr Tätigkeitsfeld ganz nach Graubünden zu verlegen. Mehr Infos

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