×

Mit Märchen etwas fürs Leben lernen

Beatrice Nater aus Uznach liebt Märchen, Sagen und alte Mundartwörter. Wenn sie die Sage vom Drachenloch oder das Märchen Dornröschen erzählt, will sie die Fantasie der Zuhörer anregen.

Linth-Zeitung
05.01.19 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
«Das Wort muss gut auf der Zunge liegen»: Beatrice Nater bezeichnet sich selber als leidenschaftliche Geschichtenerzählerin.
«Das Wort muss gut auf der Zunge liegen»: Beatrice Nater bezeichnet sich selber als leidenschaftliche Geschichtenerzählerin.
ELVIRA JÄGER

von Elvira Jäger

Müsste man eine Geschichtenerzählerin erfinden, sähe sie so aus wie Beatrice Nater. Die 60-Jährige empfängt einen mit klarem Blick und warmem Lachen, obwohl sie wenige Tage vor unserem Besuch mit dem Velo gestürzt ist und sich das Wadenbein gebrochen hat. Die Wohnung mit ihren Rot- , Orange- und Gelbtönen strahlt warme Behaglichkeit aus. Der Tee ist frisch aufgebrüht aus Lindenblüten, die in Uznach gewachsen sind.

Beatrice Nater, die als Seniorenbetreuerin arbeitet, hat eine Mission. Das alte Kulturgut Märchen und Sagen soll Kindern und Erwachsenen nähergebracht werden, damit es nicht verloren geht. Dafür tritt Nater alle paar Wochen irgendwo auf, sei es im Altersheim, in einem Schulhaus oder Restaurant, meistens begleitet von der Harfenistin Erika Zimmermann. Vor einigen Jahren hat sich Nater zur Märchenerzählerin ausbilden lassen. Eine Sage, so erklärt sie, habe im Unterschied zu einem Märchen einen wahren Kern und einen Ortsbezug. «Sie entstammt nicht der reinen Fantasiewelt wie ein Märchen.»

Die Venediger am Chüemettler

Als Kostprobe berichtet die Erzählerin vom Drachenloch am Chüemettler, wo einst Drachen und später die Venediger lebten, kleinwüchsige Männer, die Mineralien aufspürten. Beatrice Nater verwandelt sich, ohne dass sie auch nur eine Requisite in die Hand nehmen muss. Ihre Stimme hat plötzlich etwas Raues, Tiefes, ihre Stirn legt sich in Falten und man kann sich vorstellen, wie die Zuhörer ihr an den Lippen hängen und dem Ausgang der Geschichte entgegenzittern.

«Gerade Märchen enthalten viele Lebensweisheiten, die uns immer wieder begegnen.»
Beatrice Nater, Geschichtenerzählerin

Die Tradition des mündlichen Erzählens als Gegengewicht in einer immer digitaleren Welt sei ihr sehr wichtig, sagt Nater. «Gerade Märchen enthalten viele Lebensweisheiten, die uns immer wieder begegnen.» Durch sie könnten wir beispielsweise lernen, Hilfe anzunehmen oder besser mit Trauer umzugehen. Wenn Nater vor einer Gruppe Kinder steht und ein Märchen erzählt, tut sie das möglichst textgetreu und verzichtet darauf, jedes Detail selber auszuschmücken. Lieber vertraut sie darauf, dass sich die Kinder mit ihrer eigenen Fantasie ausmalen, wie das Kleid der Prinzessin genau ausgesehen hat.

Trauerarbeit mit Märchen

Zum Erzählen ist Beatrice Nater durch ihre Mutter gekommen. Diese sei eine begnadete Erzählerin gewesen. Nach dem unerwarteten Tod der Mutter habe die Märchenausbildung ihr viel dabei geholfen, den Schicksalsschlag zu verarbeiten. «Und heute dient mir das Erzählen auch als Gedächtnistraining», sagt sie lachend. Anfänglich habe sie immer frei erzählt, die Geschichte also zunächst auswendig gelernt. Auch heute bereitet sich Nater akribisch vor, liest den Text immer und immer wieder, um sich auch die Sprachmelodie einzuprägen. Als Gedankenstütze legt sie heute jedoch das Buch vor sich hin. Das sei entspannter.

Ein weiterer wichtiger Schritt in der Vorbereitung ist die Übersetzung der meist hochdeutschen Texte ins Schweizerdeutsche. Beatrice Nater sucht oft lange nach dem richtigen Mundartausdruck. «Das Wort muss mir gut auf der Zunge liegen.» Die Thurgauerin, die seit 35 Jahren in Uznach zu Hause ist, hat inzwischen ein eigenes Mundartlexikon angelegt. Nach Beispielwörtern befragt, sprudelt es nur so aus ihr heraus: potztuusig, stäärnebitzgi, süüferli, kniibel, tifig oder en Sibesiech und en Sürmel – Wörter, deren Bedeutung sie den Kindern mitunter erklären muss, die bei älteren Zuhörern jedoch ein freudiges Wiedererkennen auslösen.

Richtiger Ausdruck braucht Zeit

Ihr sei ein kreativer Umgang mit der Sprache ein Anliegen, sagt Nater. Lieber suche sie lange nach einem präzisen Ausdruck, als einfach den erstbesten Allgemeinplatz zu verwenden. Ob jener Mann, der während ihres allerersten Erzählabends aufstand und den Saal verliess, die Mundartausdrücke nicht verstand? Beatrice Nater hat es nie erfahren.

Doch seither weiss sie, dass es auch Veranstaltungen gibt, an denen der Funke einfach nicht überspringen will. Und noch eins hat sie gelernt: Märchen sprechen vor allem Frauen an, Sagen eher Männer.

Kommentieren
Wir bitten um euer Verständnis, dass der Zugang zu den Kommentaren unseren Abonnenten vorbehalten ist. Registriere dich und erhalte Zugriff auf mehr Artikel oder erhalte unlimitierter Zugang zu allen Inhalten, indem du dich für eines unserer digitalen Abos entscheidest.
Mehr zu Leben & Freizeit MEHR