«Wie ein Geist aus der Flasche»
Jedes Wochenende stellen hier mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten aus der Region ihren Lieblingsgegenstand – sozusagen ihr Schmuckstück – vor.
Jedes Wochenende stellen hier mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten aus der Region ihren Lieblingsgegenstand – sozusagen ihr Schmuckstück – vor.

Jean Marin ist seit über 20 Jahren freischaffender Künstler mit einem Atelier in Schmerikon. Sein kleines Schmuckstück ist Symbol für ein grosses Pendant.
Beim Anblick dieser roten Schatulle wird man sofort neugierig: Was ist da drin?
So ging es mir auch, als ich das Kästchen das erste Mal sah. Ich dachte: Da drin ist ein Geheimnis. Als ich den Deckel hob, sah ich einen Sessel aus Knetmasse. Aber es wurde noch besser. Ich zog an den beiden seitlichen Bändeln und der Sessel fuhr hoch wie in einem Lift.
Wann war das?
An meinem 70. Geburtstag. Da stand die Schatulle neben den Blumensträussen auf dem Tisch.
So ein geheimnisvolles Ding hat sicher eine interessante Vorgeschichte.
Diese beginnt in England, wohin meine Frau und ich eine Zeit lang viele Reisen unternahmen. Einmal machten wir auf Anraten unserer Tochter eine Exkursion nach St. Ives in Südengland. Wir verliebten uns sofort in dieses kleine Fischerdorf mit seinem alten Hafen. Dass der Ort eine lange Tradition als Künstlerkolonie und einen Ableger der Londoner Tate Gallery hat, begeisterte uns zusätzlich.
Was hat ein Künstler- und Fischerdorf mit dieser Schatulle zu tun?
In den Pubs, wo wir gerne unseren Afternoon Tea mit Scones genossen, gab es diese wunderbar bequemen Chesterfield-Sessel aus Rindsleder mit den Knopfreihen. Ich dachte: So einen Sessel müsste ich in meinem Atelier in Schmerikon haben. Da drin zu sitzen und meine Bilder zu betrachten – das stellte ich mir wundervoll vor. Den Wunsch habe ich wohl gegenüber meiner Frau und meiner Tochter geäussert, was ich dann aber wieder vergessen habe.
Ihre Familie hat den Wunsch aber nicht vergessen.
Nein, sie hat meinen Wunsch aufgenommen, ohne mir ein Sterbenswörtchen zu verraten. Meine ältere Tochter kam dann auf die Idee mit diesem Modell. Meine Frau knetete einen Sessel und meine Tochter konstruierte die Schatulle drumherum. Für mich ist das eine geniale Erfindung. Der Sessel kommt hoch wie ein Geist aus der Flasche.
Es blieb aber nicht beim Sessel aus Knetmasse, sie durften sich auch noch einen richtigen aussuchen.
Mein Sessel ist ein wenig schlanker als das Original und hat keine Knöpfe. Die charakteristischen runden Armlehnen sind äusserst bequem, ich kann mich in diesem Stuhl wunderbar hängen lassen. Überhaupt gefällt mir die runde Form, und das Leder fühlt sich sehr angenehm an.
Sie verbringen also viel Zeit in diesem Sessel?
Ja, und bevor ich mich hineinsetze, nehme ich oft das «Trückli» zur Hand, betrachte es und ziehe den Knetsessel hoch. Der richtige Sessel hat eine grosse Präsenz im Atelier, aber das Wichtigere für mich ist das kleine Modell. Es ist etwas ganz Persönliches. Meine Familie hat sogar einen Vers dazu gedichtet:
«Dies ist er, der Thron zur Inspiration.
Dies ist nun der Sitz für DEN Geistesblitz.
Hier fliessen Gedanken, so ganz ohne Schranken.
Dies Modell ist zwar klein, bloss Symbol soll es sein.
Denn das Möbel in echt – und nur so scheint’s uns recht –
suchst im Laden du dir als Geschenk von uns vier.»
Lehrer und Maler
Jean Marin wurde 1937 in Zürich geboren und wuchs zweisprachig auf. Nach dem Studium an der pädagogischen Hochschule und einem Kunststudium unterrichtete er viele Jahre als Lehrer für Zeichnen und Gestalten und war gleichzeitig künstlerisch tätig. Marin stellte rund 40-mal in der näheren und weiteren Umgebung aus, arbeitete an wichtigen Publikationen mit und erhielt 2002 den Anerkennungspreis der St. Galler Kulturstiftung für sein Gesamtwerk. Jean Marin ist verheiratet und Vater zweier Töchter. Er lebt und arbeitet in Schmerikon.
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