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Der englische Graf im sonnigen Bergell

Besuch in einem sehr speziellen Sommerhaus. Für den 88-jährigen Charles de Salis bedeutet der Palazzo in Bondo aber viel mehr als ein geräumiges Feriendomizil. Er ist die Verbindung zu seinen Vorfahren.

Ruth
Spitzenpfeil
31.10.18 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit

Hinter den Gipfeln der Val Bondasca ist gerade die Sonne aufgegangen und lässt die Rückseite des Palazzos fast weiss erstrahlen. Einen Klingelknopf sucht man am Portal vergebens, dafür gibt es den schön geschmiedeten Glockenzug, der drinnen ein feines Bimmeln ertönen lässt. Bereit, völlig in die Vergangenheit einzutauchen, stört nur dieser dunkelrote Kleinwagen den verklärten Blick. Ist das nicht ein britisches Nummernschild? «Ja, wir fahren meistens mit dem Auto; 15 Stunden von Somerset bis hierher», sagt Charles Graf de Salis, der uns selbst die Tür öffnet. Hier in Bondo ist er der «Conte», in seiner Heimat ein Lord, wenngleich es kein englischer Adelstitel ist, den er trägt. Den hatte sein Vorfahre vielmehr vom Kaiser in Wien.

Napoleons Schwarm

Später beim Tee, den uns Tochter Julia bereitet, wird uns der Graf die komplizierten Verzweigungen derer von Salis noch genauer erklären. Doch erst gibt es eine Hausführung. Wäre das irgendein italienisches Schloss aus dem 18. Jahrhundert, man würde mit gepflegter Langeweile die Zimmerfluchten durchstreifen, die Muranoleuchter im pastellfarbenen Treppenhaus bewundern; da eine Barockkommode oder eine Empire-Chaiselongue bemerken und kennerisch das chinesische Boudoir mit dem Arven-Salon im ersten Stock vergleichen.

Doch das hier ist kein Museum, sondern ein privates Einfamilienhaus. Gut, es ist eine grosse Familie. Der 88-jährige Graf hat vier Töchter und zwölf Enkelkinder, und wenn in den Sommerferien alle da sind, ist der 1766 erbaute Palazzo von 25 Menschen belebt. Sie schlafen in den mit Seide behangenen Himmelbetten, und ihre Urahnen blicken sie von unzähligen Gemälden aus an.

De Salis ist ein ausgesprochen charmanter Führer. Verschmitzt lächelnd erzählt er im ungekünstelten Englisch der britischen Oberschicht in jedem Raum eine andere Anekdote. Die Familiengeschichte wimmelt nur so von spannenden Figuren. Wer ist denn da die Dame mit dem keck entblössten Busen? Sie sei eine Vorfahrin der aus dem belgischen Adel stammenden Grossmutter väterlicherseits. Diese Thérésa Tallien war eine der führenden Frauen im Paris der Französischen Revolution, deshalb das freizügige Bildnis im Stil von Delacroix’ Marianne. Napoleon soll vergebens um ihre Hand angehalten haben.

Es verblüfft, wie selbstverständlich hier in der Vergangenheit gelebt wird.

Wer vielleicht eher ein Wohngefühl mit Ikea-Sofa und Laminatböden kennt, den verblüfft die absolute Selbstverständlichkeit, mit der hier in der Vergangenheit gelebt wird. Es kam den Erben auch gar nie in den Sinn, allzu viel an Haus und Möblierung zu ändern. Was in der Neuzeit gemacht wurde, diente eher der Funktionstüchtigkeit im Hintergrund – etwa Wasserleitungen und Strom – oder der Gebäudesicherheit. Aber selbst die Bäder wurden ganz diskret einfach in die hübschen Kabinette eingebaut, die jedem Schlafzimmer angegliedert sind. Ganz und gar erstaunlich ist, dass innen noch nie neu gestrichen werden musste und auch die Brokattapeten alle noch in satter Original-farbe strahlen. Das ist natürlich zum einen dem trockenen Bergeller Klima zu verdanken, andererseits der Tatsache, dass das Haus nur im Sommer bewohnt und nicht beheizt wird.

Zu Fuss den Maloja hinab

Charles de Salis erinnert sich noch genau, als er als Sechsjähriger das erste Mal nach Bondo kam. Es war nämlich eine höchst dramatische Reise. Sein Grossvater, Sir John Francis Charles de Salis, ein Diplomat, der unter anderem die britische Krone beim Vatikan vertrat, lag 1936 im Sterben. Deshalb machte sich die Familie aus England mitten im Januar auf ins Bergell. Trotz Schneechaos schaffte man es ins Engadin, den Malojapass mussten die Engländer aber zu Fuss hinunterlaufen; erst ab Casaccia gab es einen Pferdeschlitten. Der Grossvater erholte sich und lebte noch einige Jahre. Von ihm hat der Enkel seine Liebe zum Palazzo in Bondo geerbt. In Somerset nennt der frühere Offizier und später im Bildungswesen tätige de Salis ebenfalls ein sehr stattliches Anwesen, Yarlington House, sein eigen. Doch rund drei Monate verbringt er im Bergell. Besonders Julia, seine Drittgeborene, spürt eine ähnliche enge Verbindung. Sie war es auch, die sofort nach dem Bergsturz im vergangenen August nach Bondo eilte. «Ich habe zwei Tage lang geweint» erinnert sie sich, obwohl der Palazzo nie in Gefahr war.

Die englische Hochzeit

Zum Schluss muss jetzt noch aufgelöst werden, wieso die Salis von Bondo Engländer sind. Ursprung ist wie bei allen das Dorf Soglio. Pietro von Salis, 1727 Erbauer des Alten Gebäu in Chur, schickte seinen Sohn Hieronymus nach England. Der machte dort mit Mary Fane eine hervorragende Partie, heiratete in der Westminster Abbey und wurde 1731 eingebürgert. Sein Sohn Peter, der das «de» statt des «von» vor seinen Namen stellte, wurde ganz als Engländer erzogen, kam aber gern nach Graubünden, um den Bau des Palazzos in Bondo zu leiten. Von 1763 an verwaltete er von Bondo aus die beträchtlichen Besitztümer im Veltlin, in England und Irland. 1785 kehrten die de Salis endgültig nach England zurück. Den Palazzo in Bondo vergassen sie aber nie.

Mehr Fotos im Online-Dossier: suedostschweiz.ch/schlossherren

Die weiteren Schlösser mit allen Bildern hier im Dossier.

Ruth Spitzenpfeil ist Kulturredaktorin der «Südostschweiz» und betreut mit einem kleinen Pensum auch regionale Themen, die sich nicht selten um historische Bauten drehen. Die Wahl-St.-Moritzerin entschloss sich nach einer langen Karriere in der Zürcher Medienwelt 2017, ihr Tätigkeitsfeld ganz nach Graubünden zu verlegen. Mehr Infos

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