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Die Geschichte einer lebenslangen Sehnsucht

Als Gerichtsschreiberin ist Patrizia Parolini vertraut mit den Finessen der Sprache. Jetzt hat sie den Schritt zum literarischen Schreiben gewagt – entstanden ist eine fein gewobene Familiensaga aus dem Puschlav.

Südostschweiz
04.10.18 - 10:00 Uhr
Leben & Freizeit
Viel Material gesammelt: Für ihren Erstlingsroman hat Patrizia Parolini mit grossem Aufwand recherchiert.
Viel Material gesammelt: Für ihren Erstlingsroman hat Patrizia Parolini mit grossem Aufwand recherchiert.
CARMEN WÜEST

von Jano Felice Pajarola

Die Ankunft mit dem Zug in Poschiavo entsetzt die junge Frau. Man schreibt das Jahr 1911, Alma, aufgewachsen in Rom, kehrt mit ihrer Familie in die Heimat ihres Vaters zurück. «Die Häuser, an denen sich die Bahn langsam vorbeischlängelte, kamen ihr wie armselige, achtlos hingeworfene Streichholzschächtelchen vor. Wie konnte man hier wohnen! Wie sollte sie hier leben?» Nein, freiwillig käme sie nicht, der Arzt hat dem Vater noch drei Monate gegeben, er soll sich erholen im alpinen Puschlaver Klima, und für die 17-Jährige aus der Ewigen Stadt ist es «schrecklich, schlimmer, als sie es sich je vorgestellt hatte». Und es beginnt die Sehnsucht, die Sehnsucht nach «Almas Rom».

Zehn Jahre Schreibarbeit

Patrizia Parolini, 48, aufgewachsen in Ilanz, ausgebildet zur Anwältin und Mediatorin, heute in Teilzeit Gerichtsschreiberin in Chur: Sie hat sich literarisch auf die Spuren ihrer Puschlaver – Römer – Grossmutter gemacht. «Almas Rom» heisst die Familiensaga, die daraus entstanden ist, in zehnjähriger Arbeit, und heute um 19 Uhr findet in der Churer Stadtbibliothek die Vernissage von Parolinis Erstling statt. Vom Verlag wird er als «historisch-biografischer Roman» bezeichnet; die Autorin präzisiert: «Es ist die Geschichte einer Frau, die Ähnliches erlebt hat wie meine Grossmutter. Das Buch ist wie ein relativ grobes Raster. Dort, wo die Linien zusammenkommen, ist es wahr, und darum herum ist alles fiktiv.» Fast alle Namen sind denn auch erfunden, Alma ebenfalls; Parolinis Grossmutter väterlicherseits hiess Elvira, ihr ist der Roman gewidmet.

Parolini kannte sie kaum, die Grossmutter starb, als die Enkelin sechs Jahre alt war. Was blieb, war die Erinnerung an eine alte Frau in der Küche ihrer Wohnung in Poschiavo. Aber das sollte sich ändern.

Fast verloren in der Recherche

«Geschrieben habe ich schon in der Schule gerne», sagt Parolini. Es später am Gericht zu tun, war das eine, doch mit der Zeit wuchs die Lust, es literarisch zu versuchen. «Da tauchte plötzlich das Thema meiner Grossmutter auf, und da fand ich, das mache ich.» Ein Feuer habe sie gepackt, das nie erloschen sei, auch wenn das Projekt bedeutet habe, noch mehr Stunden am Computer zu sitzen. «Ich habe enorm viel nachgeforscht, ab und zu habe ich mich fast verloren in der Recherche», erinnert sich Parolini. «Zu Beginn hatte ich kaum Quellen, ich habe meinen Vater und die Tanten in Rom mit Fragen bombardiert.»

Das Mosaik fügt sich zusammen

Dass die Grossmutter in Rom geboren war, das wusste Parolini. Aber das bedeutete auch, dass es eine ganze Historie von Aus- und Einwanderungen in der Familie gegeben haben musste. Im zweiten Jahr der Recherche reiste sie selber nach Rom, und sie fing an, italienische Autorinnen aus der Zeit um 1900 zu lesen, «um in diese Welt hineinzukommen und zu spüren, wie eine Frau damals lebte». Später kamen historische Fotos dazu, Briefe, Artikel, Bücher, alte Stadtpläne, schliesslich eine zufällig entdeckte Kindheitsbiografie ihres Grossonkels. Und die Mosaiksteine begannen ein Bild zu formen.

Parolini besuchte Schreibkurse; sie habe anfangs «keine Ahnung gehabt», wie man an einen Roman herangehe, gibt sie zu. «Als Gerichtsschreiberin ist man zudem an strenge Regeln gebunden. Mein literarisches Schreiben war deshalb zuerst äusserst blumig.» Das hat sie in mehreren Überarbeitungen eliminiert. Einen halben Tag pro Woche, später einen ganzen Tag räumte sie sich für ihr Projekt ein, «aber auch so macht man jedes Mal wieder einen Schritt zurück, bevor man zwei Schritte nach vorne macht.»

1931: endlich nach Rom

Was in diesem zehnjährigen Schreibprozess entstanden ist, lässt sich nun auf 400 Seiten nachlesen: ein fein gewobener, äusserst authentisch wirkender Roman um eine Frau, die zwar mit dem Leben letztlich zufrieden ist, die aber auch «die grossen Reisen im Kopf unternehmen muss» und ihre Sehnsucht nach dem Ort der Kindheit nie verliert. Immerhin, Alma bleibt nicht in Poschiavo sitzen, sie kann eine Stelle in Chur annehmen, später in Arbon, bevor sie doch ins Puschlav zurückkehrt und heiratet. Man schreibt das Jahr 1931, und die Hochzeitsreise, die führt das Paar – ja, nach Rom, endlich. Und der Vater, dem der Arzt einst nur noch drei Monate zu leben gab? Er stirbt 1940, nach fast drei Jahrzehnten in seiner alten Heimat.

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