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Chalandamarz: Überall gleich und doch ganz anders

Im Engadin wird heute Chalandamarz gefeiert. Ein Umzug mit Glocken und ein Ball gehört überall dazu, doch ansonsten wird in jedem Dorf anders gefeiert. In einigen Ortschaften hat Chalandamarz schon gestern begonnen, darunter in Zuoz, Guarda und Susch.

01.03.18 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit

Guarda, 8 Uhr, –23 Grad. Kinder in blauen Bauernblusen und mit roten Zipfelmützen stehen auf der Plazzetta, umrahmt von dickbäuchigen Engadinerhäusern. Ei-ne grosse Glocke, die «plumpa», lehnt an einer Hauswand. Nur eine Handvoll Schaulustige hat sich in die eisige Kälte gewagt, um den Chalandamarz-Umzug mitzuerleben. Die Kinder stellen sich auf. Die Grossen mit den grossen Glocken gehen voran, die Kleinsten mit dem kleinen Glöckchen, den «brunzinas», laufen ganz am Schluss. Es sind überraschend viele Kinder da. «Dieses Jahr sind nur drei Kinder aus dem Unterland dabei», erzählt eine Frau. Andere Jahre habe man jedes zusätzliche Kind für den Umzug brauchen können, da ganze Jahrgänge im Dorf fehlten. Jetzt hat Guarda aber wieder genug Kinder.

Plötzlich hebt ein Oberstufenschüler den Arm. Er schwingt die Ratsche in seiner Hand. Das laute Geräusch ist das Startsignal. Los gehts durch die Gassen. An diesem Mittwoch steht nur das «Ausläuten» an. Jeden Brunnen umrunden die Kinder und läuten dabei kräftig. Am Nachmittag gibt es das gleiche Ritual nochmals im Weiler Giarsun. Gesungen wird in Guarda hingegen erst am nächsten Tag, am 1. März. Dann tragen nur noch die Jungen Schellen und Glocken, die Mädchen tragen ihre schöne Engadinertracht.

Nur die Jungen gehören zur Herde

Zuoz, 9 Uhr, –27 Grad. Seit Stunden sind die Jungen wach, denn um Mitternacht hat Chalandamarz mit Peitschenknallen vor dem Plantahaus begonnen, und ab drei Uhr morgens wurde die Bevölkerung von Zuoz mit lautem Glockengeläut geweckt. «Clamer oura» heisst diese Tradition. Die Schuljungen sind trotz der sibirischen Kälte bereits seit 7 Uhr morgens als Hirten und Herde mit Glocken und Schellen unterwegs. Sie ziehen singend durchs Dorf. Immerhin kehren die Chalanda-marz-Kinder in Zuoz wie zu früheren Zeiten nach wie vor in die Häuser ein, um dort mit ihren Glocken die bösen Geister zu verscheuchen. Gerade tritt die ganze Schar wieder aufgewärmt aus dem katholischen Pfarrhaus hinaus und formiert sich neu, um zum Lyceum Alpinum hochzulaufen. Dort wartet die wohlverdiente «marenda», das Znüni.

In Zuoz dürfen traditionsgemäss nur die Jungen am Umzug teilnehmen. Und die Mädchen? «Heute haben sie frei», sagt eine Mutter, die den Umzug begleitet. Nun, eine Ausnahme gebe es. Die Neuntklässlerinnen dürfen als «patrunas», als Herrinnen, dabei sein.

Dann tragen nur noch die Jungen Schellen und Glocken, die Mädchen tragen ihre Engadinertracht.

Sie dürfen mit den eingerollten Peitschen dafür sorgen, dass die Umzugstruppe schön zusammenbleibt und niemand verloren geht. Am 1. März findet dann das Peitschenknallen auf dem Schulhausplatz statt. Gefeiert und getanzt, wird ebenfalls am 1. März, mit den gewählten Gemeindebehörden. In Zuoz werden die Wahlen stets an Chalanda-marz durchgeführt.

Ein Mädchen führt den Umzug an

Susch, 9.45 Uhr, –20 Grad. Vor dem Dorfladen haben sich die Kinder aus Susch und Lavin versammelt. Mit dabei sind auch die Kinder, welche die Heilpädagogische Schule im Dorf besuchen. «Früher haben Susch und Lavin getrennt Chalandamarz gefeiert, aber mit vielen Kindern ist der Umzug einfach viel schöner», sagt ein älterer Herr. Wie in allen Dörfern tragen die Kinder blaue Bauernblusen, rote Zipfelmützen und sind mit Papierblumen geschmückt. Angeführt wird der Umzug hier aber von einem jungen Mädchen mit einer schwarzen Mütze, die an die früheren Bahnhofsvorsteher erinnert.

«Das ist die Anführerin. Das älteste Schulkind. Früher hat dieses Kind das ganze Fest organisiert», erklärt ein Mann. Sogleich werden bei ihm Erinnerungen an vergangene Zeiten wach; als man noch Esswaren statt Geld beim Umzug sammelte und abends dann gemeinsam das Abendessen genoss oder als man erst am 3. März Chalandamarz feierte, weil man sich die riesigen «plum-pas» aus Zuoz ausleihen wollte.

Einige frühere Chalandamarz-Eigenheiten seien nun mal im Laufe der Jahrzehnte verloren gegangen, meint eine Frau. Andere haben offenbar alle gesellschaftlichen Umbrüche überstanden. In Lavin, zum Beispiel, ist der Brauch vor allem für die «Mamma da Chalandamarz» ein Kraftakt. «An sechs Tagen kocht die Mutter des ältesten Schulkindes ein gemeinsames Mahl für alle Schulkinder», erzählt eine Frau aus Lavin. Eine Zumutung für die moderne Frau? «Sicher, aber auch eine wunderbare Tradition, um die Geselligkeit zu zelebrieren.»

Ein paar Eigenheiten an Chalandamarz

In St Moritz wird an drei Tagen Chalandamarz gefeiert: Der Ball ist am 27. Februar, am 28. Februar findet das Hotelsingen statt, und am 1. März zieht die Kinderschar zuerst in zehn Gruppen von Haus zu Haus, bis sich alle zum grossen Umzug versammeln.
In La Punt eröffnen die «patruns» und die «chavagls» um 4 Uhr morgens mit Peitschenschlagen und Schellengeläute den Chalanda-marz. Der Umzug startet um 6 Uhr.
In Ftan gleicht Chalandamarz einem Fasnachtsumzug. Schuljungen und männliche Jugendliche ziehen maskiert durchs Dorf und schlagen mit aufgeblasenen Schweineblasen auf Mädchen ein. Ursprünglich soll das ein Fruchtbarkeitsritual gewesen sein.

Fadrina Hofmann ist als Redaktorin für die Region Südbünden verantwortlich. Sie berichtet über alle gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Themen, die in diesem dreisprachigen Gebiet relevant sind. Sie hat Medien- und Kommunikationswissenschaften, Journalismus und Rätoromanisch an der Universität Fribourg studiert und lebt in Scuol im Unterengadin. Mehr Infos

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