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Überlebender des Holocaust redet mit Schmerkner Schülern

Ábba Naor ist einer der letzten Zeitzeugen der Judenverfolgung. Den Schmerkner Oberstufenschülern erzählte er seine Geschichte, schonungslos. Er sorgte aber auch dafür, dass die Schüler lachen konnten.

Südostschweiz
15.02.18 - 12:27 Uhr
Leben & Freizeit
Ábba Naor war so alt wie seine jungen Zuhörer, als er im Ghetto und in Dachau ums Überleben kämpfte.
Ábba Naor war so alt wie seine jungen Zuhörer, als er im Ghetto und in Dachau ums Überleben kämpfte.
BARBARA SCHIRMER

Ich will an diejenigen Menschen erinnern, über die man nie sprach», erklärte Ábba Naor den Schülern im Oberstufenschulhaus in Schmerikon. Es handle sich hier um seine Geschichte. Aber es sei das Schicksal von Millionen von Menschen gewesen, die in Europa lebten. «Die meisten haben es nicht überlebt», gab er zu bedenken und begann zu erzählen.

Aufgewachsen ist Ábba Naor in Litauen unter drei Millionen Menschen, wovon 250 000 der jüdischen Religion angehörten. Von Letzteren haben nur vier Prozent den Zweiten Weltkrieg überlebt. Bei den Kindern sah die Rechnung noch trauriger aus. 60 000 litauische Judenkinder habe das Land zu Friedenszeiten gezählt. Nach dem Krieg seien es grad mal noch 350 gewesen. Wovon 200 durch die Katholische Kirche oder durch Einwohner von Litauen gerettet worden seien. Er habe zu jenen 150 Kindern gezählt, die in den Aussenlagern von Dachau überlebt haben.

«Es war ja nur einer»

Was nun folgte, war happige Kost. Ábba Naor erzählte ungeschönt seine Erlebnisse, angefangen im Ghetto bis zur Befreiung durch die Amerikaner. Er wies darauf hin, dass er schnell gelernt habe, dass auf Schlimmes noch Schlimmeres folgen wird. Der Beamer projektierte ein Foto mit einem gehängten Juden an die Leinwand. «Das war für uns gar nicht mehr schlimm, es war ja nur einer, und erst noch einer, den wir nicht kannten», relativierte er, auf das Foto deutend. Sie hätten Massen sterben sehen. An einem einzigen Tag seien 10 000 Juden einfach umgebracht worden. Erschossen und in Gruben entsorgt. Nur die kleinen Kinder nicht.

Im Foyer des Oberstufenschulhauses war es mucksmäuschenstill. Die Jugendlichen sassen beinahe regungslos da und horchten den Worten von Ábba Naor zu. Für den Bruchteil einer Sekunde schlich sich ein beruhigendes Gefühl ein. Die Kinder wurden offensichtlich verschont von diesem grausamen Massenmord. Doch Ábba Naor schaute nach einer kurzen Redepause in die Menge und präzisierte schonungslos: «Die kleinen Kinder warfen sie lebendig zu den Erschossenen in die Grube.»

Ábba Naor musste in Holzschuhen und von Läusen und Flöhen übersät schwere Säcke über Balken tragen, in 12-Stunden-Schichten, ohne auch nur einen Schluck Wasser trinken zu dürfen. Jeder Zweite überlebte dieses Aussenlager nicht, verhungerte oder rutschte aus und fiel mit der Last auf dem Rücken in die Tiefe. Die Toten durften aber nur einmal in der Woche weggeschafft werden, um die Kräfte einzuteilen.

Gut vorbereitete Schüler

Als der amerikanische General Eisenhower nach der Befreiung diese Zustände sah, habe er befohlen, Fotos zu machen. Eisenhower habe prophezeit, dass der Tag kommen werde, wo man das alles nicht glaube.

Ábba Naor schaute in die Gesichter der Schüler. Viele von ihnen sind genauso alt, wie er war, als er – so nannte er es – seine Karriere als Häftling im Ghetto begann. «Hatte Eisenhower recht?»

Ábba Naor liess die Schüler tief in seine Kriegserlebnisse blicken. Doch er hielt nicht nur einen Vortrag, er munterte sie zum Mitdenken auf, prüfte ihre Aufmerksamkeit und sorgte zwischen all den schrecklichen Erzählungen dazu, dass die Schüler lachten. Es waren kleine, versteckte Witze, die er gezielt platzierte. Er war sich seiner verantwortungsvollen Aufgabe bewusst, dass er Kinder vor sich hatte.

Die Lehrer ihrerseits hatten die Schüler gut auf den Anlass vorbereitet und mit ihnen die geschichtlichen Hintergründe und die Auswirkungen dieses Krieges im Voraus behandelt. Dies bestätigten sie gegenüber der «Südostschweiz». Entsprechend gereift waren die Fragen, welche die Schüler Ábba Naor im Anschluss an das Referat stellten. Ein Kind wollte wissen, ob er je daran glaubte, das Konzentrationslager zu überleben. Worauf Ábba Naor erwiderte: «Wir fragten uns nicht, ob wir jemals wieder in Freiheit leben, sondern, ob wir jemals wieder genug zu essen haben werden.» Wie er sich fühle, wenn er an all das zurückdenke, fragte eine andere Schülerin. «Wenn ich die Gegenwart sehe, an meine Kinder, Enkel und Urenkel denke, dann bin ich ein sehr reicher Mann. Wenn ich aber zurückdenke, dann bin ich wohl eher ein sehr armer Mann», antwortete Ábba Naor.

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