Wie Glarner Flüchtlinge Medaillen abräumen
Anna Luchsinger hatte vor zwei Jahren ein einschneidendes Erlebnis. Seither gibt es für die Glarnerin nicht mehr nur «die Flüchtlinge», sondern Menschen mit Namen, Eltern, Geschwistern und Kindern. Sie trinkt mit Mohammad Essa Tee und begleitete Noor Mohammad an den Züri-Marathon.
Anna Luchsinger hatte vor zwei Jahren ein einschneidendes Erlebnis. Seither gibt es für die Glarnerin nicht mehr nur «die Flüchtlinge», sondern Menschen mit Namen, Eltern, Geschwistern und Kindern. Sie trinkt mit Mohammad Essa Tee und begleitete Noor Mohammad an den Züri-Marathon.
Mohammad Essa kocht in der Küche von Anna Luchsinger afghanischen Tee. Mohammad ist 21 Jahre alt, Flüchtling und heisst mit Nachnamen Alizada: Ein typischer Name, erklärt er, der in Afghanistan etwa so geläufig sei wie Luchsinger im Glarnerland.
«Mit oder ohne Zucker?», stellt er die Frage auf Deutsch, «natürlich mit», sage ich, den Tee, mit Kardamon-Samen parfümiert, möchte ich so authentisch wie möglich geniessen. Zusammen mit Mohammad Essa, seinen beiden afghanischen Kollegen Hassan und Noor Mohammad sowie Anna sitzen wir am Esstisch der Familie Luchsinger in Schwanden. An der Wand hängt der Spruch: «Es sind die Träumer, die die Welt verändern.» Es sind nun zwei Jahre vergangen seit Anna Luchsingers Schlüsselerlebnis, welches ihr Leben in eine ganz andere Richtung lenkte und ihre Denkweise auffrischte.
Sorgen und Glücksmomente
Im Kinderspital Zürich erlebte sie eine Szene zwischen einem syrischen Vater und seinem kleinen Kind, welches er mit den Geräuschen einer PET-Flasche herzhaft zum Lachen brachte. «Die Liebe zwischen den beiden in dieser unscheinbaren Szene war im Raum spürbar und ging mir nahe.» Seit diesem Moment gab es für Anna Luchsinger nicht mehr nur «die Flüchtlinge», sondern Menschen mit Namen, Eltern, Geschwistern und Kindern; Lebensgeschichten, geprägt von Sorgen und Glücksmomenten. «Ich stellte mir vor, meine eigenen Kinder wären weit weg, in einem fremden Land, in einer ungewissen Zukunft. Dieser Gedanke war unerträglich.» Anna Luchsinger wollte helfen, wollte sich nützlich machen, wollte etwas tun.
Für das laufende Jahr rechnet der Bund mit 16'500 neuen Asylgesuchen in der Schweiz. Für den Kanton Glarus bedeutet diese tiefe Zahl, dass für das Jahr 2018 lediglich noch rund 100 neu ankommende Asylsuchende erwartet werden. «Die Flüchtlingssituation im Kanton Glarus ist ruhig, die Zahlen sind so tief wie schon seit langer Zeit nicht mehr», bestätigt Andreas Zehnder, Leiter Hauptabteilung Soziales im Kanton Glarus. Insgesamt haben gegen Ende des letzten Jahres im Kanton Glarus 579 Asylsuchende, vorläufig Aufgenommene und anerkannte Flüchtlinge gelebt. Nur ein Drittel dieser Menschen – gut 200 Personen – hat den Status, den die Asylsuchenden erst einmal anstreben: den Status als anerkannter Flüchtling. Diese haben wie auch die vorläufig aufgenommenen Flüchtlinge Anspruch auf eine Arbeitsbewilligung.
Schwieriger Kontaktaufbau
Alle anderen sitzen und warten. Auf Bewilligungen und Entscheide, Termine und Befragungen und werden, während sie warten, vom Kanton in Beschäftigungsprogramme eingeteilt. Sie dürfen während dieser Wartezeit nicht arbeiten und erhalten pro Tag elf Franken. Eine Situation, in der sich Mohammad, Hassan und Noor, die drei afghanischen Flüchtlinge am Küchentisch, befinden.
Im Glarnerland war es für Anna Luchsinger nicht einfach, direkten Kontakt zu Flüchtlingen aufzubauen. «Es war nicht unbedingt gern gesehen, dass Leute aus dem Volk initiativ und eigenständig Projekte anzubieten versuchten.» Anna Luchsinger wollte ein Sportprojekt mit Flüchtlingen auf die Beine stellen, wollte sportliche Aktivitäten für die mehrheitlich jungen Männer realisieren. «Man kann junge Männer nicht nur mit Malen, Stricken, Trommeln und Deutschkursen beschäftigen, wie es zum Beispiel der Verein Träffpunkt tut. Vor allem die jungen Männer müssen Energie und Dampf ablassen können.» Anna Luchsinger schlug ein Sportprojekt vor und mit viel Durchhaltewillen, Engagement und Entschlossenheit stand sie bald in der Mehrzweckhalle in Rüti einer Gruppe von 20 Männern gegenüber, die distanziert, aber konzentriert darauf warteten, dass es losgeht. «Wir haben Fussball gespielt und sind herumgerannt», erinnert sie sich an die ersten Treffen. Bis heute kommen jeden Donnerstagabend zirka zehn Flüchtlinge in Rüti zum Ballspielen und Trainieren mit Anna Luchsinger zusammen.
Regelmässige Trainings
Es fiel ihr bald auf, dass einige der jungen Männer talentierte Athleten mit viel Ehrgeiz waren, die sportlich mehr konnten und auch mehr wollten. Aus dieser Sportgruppe in Rüti hat sich eine Laufgruppe entwickelt, mit der Anna Luchsinger regelmässige Trainings durchführt. Bereits acht Wettkämpfe haben die besten aus dem Laufteam absolviert und an Läufen in der ganzen Schweiz Silber- und Bronzemedaillen geholt. Das Training gibt den jungen Männern Perspektiven: «Wenn ich morgens aufstehe, freue ich mich darauf, eine bis zwei Stunden rennen zu gehen», erklären sie. Noor Mohammad und Hassan sind unterdessen im Leichtathletik-Verein Glarus am Trainieren, Mohammad Essa spielt zusätzlich im Fussballclub.
Einmal, da seien sie am Züri-Marathon mitgelaufen: «Eigentlich wollten wir den 10-Kilometer-Lauf absolvieren, haben aber die Abzweigung verpasst», erinnert sich Noor Mohammad schmunzelnd. So habe er kurzerhand und ohne grosse Vorbereitung die 42 Kilometer Marathon-Distanz bis zum Ziel durchgezogen. Während Hassan nach 21 Kilometern in den Zug stieg und nach Zürich zurückfuhr.
«Wir sind wie eine kleine Familie», lacht Anna. «Wir tauschen uns kulturell und auch religiös aus, lernen voneinander – es hätte mir nichts Besseres passieren können.» So hat sie an Weihnachten eine Gruppe von Männern an den Familiengottesdienst in die Kirche mitgenommen. Mohammad, dessen Familie, wie so viele in Afghanistan, von den Taliban terrorisiert wird, erklärt: «Ich möchte nicht mehr und nicht weniger als andere Menschen: ein Leben in Sicherheit, eine Arbeit und eine Familie.» Anna Luchsinger hat von den Flüchtlingen gelernt, jeden Tag zu nehmen, wie er kommt, im Jetzt zu leben. «Es ist unsere Aufgabe, diese Menschen an die Hand zu nehmen und ihnen unser Leben zu zeigen.»
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Komplimente, es tut gut,…
Komplimente, es tut gut, solche Berichte lesen zu können, denn ich hab eine grosse Wut in mir bei gewalttätigen Emigranten. Die gehören nicht hier.