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Der Weg zurück

Vor 100 Jahren kamen die Kommunisten in Russland an die Macht. Der Glarner Auswanderer Albert Sigrist geriet in die Wirren der Revolution – und schrieb einen packenden Bericht über seine Flucht in die Schweiz. Teil zwei.

Ueli
Weber
27.01.18 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Russlandschweizer am Badischen Bahnhof in Basel: Viele sind in Russland geboren und haben die Schweiz noch nie gesehen.
Russlandschweizer am Badischen Bahnhof in Basel: Viele sind in Russland geboren und haben die Schweiz noch nie gesehen.
SOZIALARCHIV

Um drei Uhr früh rasselt der Wecker in der Fabrikwohnung von Albert Sigrist. Es ist Februar in Russland, und er hat nicht genug Holz zum Heizen. Sigrist friert, und sein Magen knurrt. Er zieht sich an und tritt vor die Türe. Draussen erwarten ihn vier Rotgardisten. Auf ihre Karabiner haben sie Bajonette aufgepflanzt, am Gürtel tragen sie Handgranaten. Sigrist grüsst die Soldaten. Zusammen stapfen die fünf Männer durch den frisch gefallenen Schnee zum Maschinenhaus der Spinnerei. Sie untersuchen die Plombe an der Tür. Die Feinde der Revolution sind überall.

Die Plombe ist in Ordnung, niemand ist eingebrochen. Die Soldaten stellen ihre Gewehre unsanft in der Ecke ab. Werkmeister Sigrist darf sich umkleiden, dann inspizieren die Männer die Säle. Im Erdgeschoss fehlt nichts. Im Kardenraum stutzt Sigrist. Er erbleicht, als er sieht, dass an einem Elektromotor ein meterbreiter Riemen aus bestem Leder verschwunden ist. Wenn die Karden nicht in Gang gebracht werden können, steht bald die halbe Fabrik still. Die fünf Männer sehen einander bestürzt an. Sigrist weiss, der geringste Verdacht reicht, um ihn wegen Sabotage zu verhaften.

Das Pulverfass

Kurz zuvor, im November 1917, haben die Kommunisten unter Lenin die Macht in Russland an sich gerissen. Die Kommunisten machen ernst: Sigrists Fabrik im nahe Moskau gelegenen Städtchen Saraisk wird unter die Kontrolle der 2000 Arbeiter gestellt. Die Glarner Fabrikanten, denen die Fabrik gehört, haben nichts mehr zu melden. Die Arbeiter dagegen haben eine Welt zu gewinnen: Ein Arbeiterrat kontrolliert die Korrespondenz der Fabrik, überprüft die Buchhaltung und führt die Kassen. «Obschon kein einziges Mitglied der Kommission etwas von kaufmännischen Dingen verstand», schreibt Sigrist. Sie erteilen sich erst einmal eine Lohnerhöhung. Sigrist hält wenig von den Bolschewiken – aber er behält seine Meinung für sich.

Die Sache mit dem Lederriemen kann ihm gefährlich werden. Die Rotgardisten holen den politischen Kommissar aus dem Bett. Scharfes Verhör. Sigrist kann nachweisen, dass er sein Haus seit gestern nicht verlassen hatte. Wenn nicht Sigrist den Lederriemen gestohlen hat, dann ein anderer der ausländischen Vorarbeiter. Da sind sich die neuen Chefs sicher. Alle miteinander sind «Burschui», Bourgeois, Gegner der Revolution und Saboteure! Dass die Produktion der Spinnerei stetig sinkt, beweist das nur zu gut.

Auch wenn sich später herausstellt, dass der Dieb ein Russe ist: Sigrist hat genug. «Die Vorfälle bewiesen nicht nur mir, sondern auch andern Angestellten, auf welchem Pulverfass wir sassen.»

Do swidanja, Saraisk!

Verglichen mit dem Rest des Landes ist Saraisk ruhig. Die Kommunisten hatten ihr Versprechen eingelöst, mit den Deutschen Frieden zu schliessen. Doch die Russen bekämpfen sich schon gegenseitig. Im Süden bekämpfen Kosakengeneräle die Kommunisten. Im Norden greifen Aufständische mit der Hilfe englischer Soldaten an.

Sigrists Familie erhält noch 100 Gramm Brot am Tag pro Person. Das Brot ist aus einem Gemisch aus Abfallmehl und Kleie gebacken. Sigrist fällt den gleichen Entscheid wie Tausende andere Russlandschweizer: Er will zurück in die Schweiz. Um Russland verlassen zu können, braucht Sigrist die nötigen Papiere. Das Schweizer Konsulat weist Sigrist und die anderen ausreisewilligen Schweizer an, sich diese bei den Sowjets in Moskau zu beschaffen. Mehrmals macht sich Sigrist auf, die Ausreisepapiere zu besorgen. Stundenlang muss er für ein Billett anstehen. Die Züge nach Moskau fahren oft erst mit Stunden Verspätung. Wenn sie überhaupt fahren. Die wenigen Passagierwagen, die noch verkehren, sind verwüstet. Fährt ein Zug in einen Bahnhof ein, schlagen die Passagiere die Fenster ein, schleudern ihr Gepäck ins Innere des Wagens und klettern nach. Sind die Wagen voll, klettern die übrigen Passagiere aufs Dach oder suchen auf einem der Puffer zwischen den Wagen einen Platz. Sigrist macht die mühseligen Zugfahrten vergeblich. Es gelingt ihm nicht, die Ausreisepapiere zu beschaffen.

Hunderten anderen Schweizern, die Russland verlassen wollen, ergeht es wie Sigrist. Das Konsulat in Moskau ist völlig überfordert. Eineinhalb lange Monate vergehen. Dann, endlich, Bescheid vom Konsulat: Sie sollen mit ihren Familien nach Moskau reisen. Der Aufenthalt werde kurz sein. Schnell verkaufen die Heimkehrer ihre letzten Habseligkeiten. «Schwer und doch wieder leicht wurde uns der Abschied. Schwer, von der Stätte, an welcher wir so lange gewirkt hatten, von treuen Freunden, die in guten und schlimmen Tagen zu uns gehalten hatten, von guten Bekannten und von angeheirateten russischen Verwandten. Leicht in der Hoffnung, endlich diesen unhaltbaren Zuständen entfliehen zu können, um in der Heimat einen sichern Port zu finden.» 16 Jahre hatte Sigrist in Russland gelebt, eine Familie gegründet, eine Existenz aufgebaut. Die Revolution fegte alles weg. Do swidanja, Saraisk! Auf Wiedersehen.

Mehlhändler leben gefährlich

Mit Bekannten teilt sich Sigrists Familie in Moskau zwei Zimmer in der Garage der Konsulatswohnung. Ihre Essensrationen können sie in der Küche abholen. Sigrist wird zum Verwalter der Essensausgabe ernannt. Viel zu verwalten hat er nicht. «Die Rationen waren hier noch kleiner und noch schlechter, als in unserem früheren Wohnort», schreibt Sigrist. Jeden Tag wandert er mit seinem Freund von ihrer Unterkunft zum Konsulat. Wann können sie endlich weg? «Die Antwort auf unsere Fragen bestand meist nur in einem Achselzucken.» Den Rest des Tages verbringen sie damit, weiteres Essen zu suchen. Stundenlang stehen sie vor den wenigen offenen Lebensmittelläden Schlange. Oft sind die Läden ausverkauft, bevor sie an die Reihe kommen. Wenn sie auf legalem Weg kein Essen bekommen, gehen die beiden an den Bahnhof. Dort bekommt man Mehl von den «Meschotschniki», was so viel wie Sackträger bedeutet. Diese Schwarzmarkthändler fahren auf den Dächern der Züge aufs Land, wo sie billiges Mehl einkaufen. Wenn sie nach Moskau zurückkehren, verkaufen sie es für teueres Geld an die hungernden Stadtbewohner. Die Meschotschniki verdienen gut und leben gefährlich: Erwischen die Bolschewiken einen der Schwarzhändler, erschiessen sie ihn meist auf der Stelle.

Schüsse hört Sigrist oft in Moskau. Nach einem gescheiterten Putschversuch gegen die Bolschewiken inspiziert er mit seinem Freund das umkämpfte Hauptpostamt. Rotgardisten sperren die Strasse. Von Weitem sehen sie die zerschossenen Mauern. «Als wir zwei Freunde mit noch vielen andern Neugierigen uns zu nahe an die Gardisten heranwagten, übrigens ein sträflicher Leichtsinn, griffen die an die mit Handgranaten behängten Gürtel und die blosse Handbewegung genügte vollkommen, die Strasse im Nu menschenleer zu machen.» So geht das weiter in Moskau: Essen suchen, Konsulat, Achselzucken, Essen suchen. Tagelang.

Es ist früh am Morgen, als es endlich heisst: Es geht los. Sigrist und seine Familie müssen zum Warschauer Bahnhof. Es ist derselbe Ort, an dem Sigrist 16 Jahre zuvor angekommen ist. «Damals hungrig, jetzt auch. Damals hoffnungsvoll, jetzt bedrückt. Damals allein, jetzt mit Frau und sechs Kindern. Ein gewaltiger Unterschied, ausser dem leeren Magen», schreibt Sigrist. Der Zug rollt nach Norden. Die Eisenbahnlinie von Moskau nach St. Petersburg verläuft schnurgerade 600 Kilometer lang. Blickt Sigrist links aus dem Fenster, sieht er Bäume, schaut er nach rechts, sieht er mehr Bäume. Mitten in der russischen Einöde lernt Sigrist, zu jassen. «Dieses schöne Spiel erfüllte seinen Zweck treu und ausgiebig und liess die Spieler den ganzen Bolschewismus vergessen.»

Der Zug fährt in St. Petersburg ein, ehemalige Zarenstadt, Hochburg der Revolution. Der Zug wird in den Güterbahnhof rangiert. Ein Kommissar befiehlt, den Gepäckwagen auszuräumen. Soldaten wollen das Gepäck durchsuchen. Sigrist erblickt in der Nähe des Bahnhofs eine Brücke, Soldaten marschieren darüber, Sigrist sieht Kanonengespanne und Leichentransporte. Als der Gepäckwagen zur Hälfte ausgeladen ist, kommt die Gegenorder: Alles wieder einladen! «Es ist anzunehmen, dass ein Händedruck mit Inhalt diese Sinnesänderung der Kommissare bewirkte», schreibt Sigrist. Er ist froh, St. Petersburg so schnell wie möglich zu verlassen. «Die Luft hier oben war unheilverkündend.»

Stacheldraht bis an den Horizont

Der Schweizer Zug fährt in Richtung Südwesten. Wieder Wälder links und rechts, endlose Wälder, bis er an der deutsch-russischen Waffenstillstandslinie hält. Ein unheimlicher Ort. Die Bahnlinie durchbricht Stacheldrahtverhaue, die sich auf beiden Seiten hinziehen, so weit das Auge reicht. Sigrist sieht Männer in grauen Uniformen. Deutsche Soldaten. Es sind alte Männer. Sigrist beobachtet vor seinem Fenster Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder, die ihr Hab und Gut in einem Bündel mit sich tragen. Es sind Flüchtlinge aus den baltischen und polnischen Provinzen, die vom Deutschen Reich erobert wurden. Sie wollen das Gleiche wie die Schweizer, die im Zug sitzen: nach Hause. Die Soldaten weisen die Verzweifelten schroff ab.

Noch steht Sigrists Zug auf Sowjetgebiet. Er fragt sich: «Wenn es uns ergehen würde wie den unglücklichen Fusswanderern?» Sowjetkommissare steigen in den Zug. Sie überprüfen oberflächlich das Handgepäck auf Gold und Wertsachen. Dann verlassen die Männer mit dem Stern an der Mütze den Zug. «Die letzte Amtshandlung bolschewistischer Funktionäre, die wir sahen», schreibt Sigrist. Als der Zug sich in Bewegung setzt und die Demarkationslinie überquert, brechen die Menschen im Zug in Jubel aus. «Die Szenen, welche sich in diesem Moment in den Wagen abspielten, vergesse ich bis zu meinem Tode nicht.

Einander fremde Menschen umarmten und küssten sich in toller Freude, selbst ältere Männer, geschweige denn Frauen, weinten vor Rührung und freudiger Erregung», erinnert sich Sigrist. «Endlich in Sicherheit!» Sigrists russische Frau Chionia weint still vor sich hin. Nicht aus Freude. Ihre Heimat wird sie wohl nie mehr wiedersehen. Als die Kinder ihre Mutter in Tränen sehen, beginnen auch sie zu weinen.

Deutscher General empfängt

Als der Zug in Pleskau einfährt, spielt eine deutsche Militärkapelle die Schweizer Nationalhymne. Der Bahnhof ist mit deutschen und schweizerischen Flaggen geschmückt, überall hängen Girlanden. Ein General empfängt die Schweizer vor der Speisebaracke. «In seiner Paradeuniform hält er eine Ansprache, die in den Schlussworten gipfelt, dass wir es nur den unerhörten Siegen der deutschen Heere zu verdanken hätten, dass wir die Hölle hinter uns verlassen konnten.»

Am Ende seiner Rede fordert der General die Schweizer auf, mit ihm in ein dreifaches Hurra für Kaiser Wilhelm einzustimmen. Die Deutschschweizer machen mit. Die Westschweizer, deren Sympathien bei den Kriegsgegnern aus Frankreich liegen, schweigen. «Sie waren arg verstimmt und gaben später ihrer Empörung in bösen Worten Ausdruck.» Immerhin gibt es zu essen.

Der Zug fährt weiter nach Westen. Am Zugfenster ziehen Schützengräben und verlassene Unterstände vorbei, riesige Granattrichter, abgebrannte Gehöfte und zerstörte Dörfer, Baumstümpfe, wo früher Wälder standen. Bei Wirballen vor Königsberg erreicht der Zug die eigentliche Grenze des Deutschen Reiches.
Manche Schweizer nehmen es mit der Neutralität nicht mehr so genau auf der Durchreise. Drei Westschweizer Gouvernanten erblicken am Bahnhof in Erfurt drei französische Kriegsgefangene. «Meine Nachbarinnen gerieten vor Begeisterung und Mitleid aus dem Häuschen, stürzten aus dem Abteil, drückten den gefangenen ‹Landsleuten› stürmisch die Hände und schenkten ihnen die Liebesgaben, die uns entgegengebracht worden waren. Mein anderer Nachbar, ein zugestiegener deutscher Militärarzt, sah dem zu, ohne etwas zu sagen, aber auf seinen Mienen war deutlich genug zu sehen, was er sich dabei dachte.»

Die Schweiz

Bei Singen schlafen die Schweizer Flüchtlinge zum letzten Mal auf fremdem Gebiet. Der nächste Morgen, es ist Sonntag, ist strahlend schön. Auf dem Nachbargleis steht ein neuer Zug, auf den Waggons prangt das Schweizer Kreuz. Auf dem Perron davor steht ein kleines Empfangskomitee aus der Schweiz. Sie verteilen Schokolade, Gebäck und Zigarren an die Russlandschweizer. Sigrist und seine Familie kommen im vordersten Wagen unter.

Die Schweizer Grenze. Ein paar Soldaten winken dem Zug von einer Bahnüberführung aus zu. Sigrist schreibt über den Moment, als der Zug die Grenze überquert: «Wenn eine Steigerung in den Ausbrüchen der Freude und Begeisterung, wie wir sie beim Passieren der russisch-deutschen Demarkationslinie sahen, überhaupt möglich war, so geschah sie hier.» An Sonntagen verkehren in dieser Zeit keine Züge in der Schweiz. Doch an jedem Bahnhof, an dem der Zug vorbeifährt, steht eine Menschenmenge und winkt ihnen zu. «Wie staunten die mitreisenden Schweizer, die ihre Heimat noch nie gesehen hatten und von denen einige ihre Muttersprache nicht beherrschten, über dieses herrliche Naturwunder.»

Ueli Weber ist stellvertretender Redaktionsleiter der «Glarner Nachrichten». Er hat die Diplomausbildung Journalismus am MAZ absolviert und berichtet seit über zehn Jahren über das Glarnerland. Mehr Infos

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