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«Es ist wichtig, teilzunehmen am Gemeingeschehen»

Da, wo die Gemeinschaften wachsen, braucht es den Schritt zum Nachbarn hin besonders. Das sagt Pfarrer Hans-Walter Hoppensack. Und er ist ein bekennender Fan der Landsgemeindedemokratie.

Fridolin
Rast
28.12.17 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Gute Nachbarn sein: Hans-Walter Hoppensack lehrt, betreut, beobachtet und betont, wie wichtig die Gemeinschaft ist.
Gute Nachbarn sein: Hans-Walter Hoppensack lehrt, betreut, beobachtet und betont, wie wichtig die Gemeinschaft ist.
FRIDOLIN RAST

Hans-Walter Hoppensack ist seit 33 Jahren Pfarrer in Schwanden. Er hat sich nicht nur mit reformierter Theologie beschäftigt, sondern ist auch Zen-Lehrer geworden und ist begeisterter Sportler. Der 60-jährige Vater von zwei erwachsenen Söhnen will sich diesen Gebieten verstärkt widmen, wenn er Mitte 2018 sein Amt als Pfarrer aufgibt. Dann zieht er vorderhand Richtung Zürich – wobei er im Sinn hat, wieder ins Glarnerland respektive in die Berge zurückzukehren.

Herr Hoppensack, wie nehmen Sie die Glarner Gesellschaft 2017 wahr, worauf kann man sich verlassen?
Hans-Walter Hoppensack: Das Jahr war wohl nicht grundsätzlich anders als die früheren. Man kennt sich noch – noch! Politik, Gesellschaft und auch Kirche leben von der Interaktion, und die gibt es noch. Man versucht auf  kantonaler Ebene Lösungen zu finden. Ich finde es unglaublich gut, dass jeder mitmachen kann, der das will und sich ein bisschen organisiert. Das geht in keinem anderen Land der Welt. Das ist riesig, das muss man sagen.

Was ist anders geworden?
Anders ist es da, wo viele Neue zuziehen. Die alten Strukturen sind zwar noch da, doch weniger Leute engagieren sich. Als Beispiel der Kirchenrat Mollis: Es finden sich nur schwer Neue. Von den Zuziehenden würde ich mir wünschen, dass sie nicht nur hier wohnen, sondern sich engagieren, in Vereine gehen. Nicht nur denken, «es ist schön hier», und schlafen, sondern am Gemeingeschehen teilnehmen. Wenn ein Haufen neue Leute zusammen sind, bräuchte es jemanden, der die Initiative ergreift und sagt: «Kommt, wir machen ein Fest.» Im Moment ist mir das am Wichtigsten: Dass sich überall da, wo es wächst, die Leute organisieren.

Vielleicht braucht man einander gerade jetzt nicht – aber später ist die Gemeinschaft wichtig.

Würde es helfen, wenn die Gemeinde jemand dafür anstellt?
Bitte nicht! Warum soll es denn die Gemeinde übernehmen oder die Kirche? Wir sind doch hier nicht in der Grossstadt! Und selbst wenn ... wieso nicht Eigeninitiative? Ich wünsche mir zum Beispiel im Heulosen in der neuen Überbauung, dass einer ein Fest anreisst. Damit jeder weiss, wer da wohnt und so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl entsteht. Und ich wünsch mir, dass der Freiraum bleibt, ein Fest auch ohne Bewilligungszirkus zu organisieren.

Alte sterben, Junge ziehen weg ...
Es gäbe auch qualifizierte Jobs in Glarus Süd, aber da sagt dann die Frau vielleicht: «Bitte nicht so weit hinten.» Was ich nicht verstehen kann, ich bin sehr gerne hier. Die Individualisierung nimmt zu. Man denkt, man braucht einander nicht, und man braucht sich vielleicht in diesem Moment gerade nicht – aber später. Die Nachbarschaftsbeobachtung im Positiven, die ich bei den Alten sehe, die schafft auch Geborgenheit. «Es brennt Licht, alles in Ordnung.» oder «Die Läden sind noch zu, da stimmt doch etwas nicht.»

Sie arbeiten als evangelischer Pfarrer und Theologe, Zen-Lehrer, Psychologe. Was bewegt Ihre Gesprächspartner?
(denkt nach) Je nach Situation. Die einen haben Angst, dement und abhängig zu werden. Wenn ich mit den Alten spreche, die noch nicht im Altersheim sind: Was wird denn aus mir? Bleibe ich bis zum Lebensende klar im Kopf oder nicht? Mit den Mittelalterlichen habe ich nicht soo viele Gespräche – die kommen nicht. Bei den Jungen ist es die Frage: In welche Richtung gehe ich, was mache ich beruflich? An Spirituellen, religiösen Fragen sind sehr wenige interessiert. Man redet über schwer Fassbares nur, wenn man in einer Krise steckt. Das macht auch das Pfarrersein schwierig, entsprechend wenige kommen in die Kirche. 

Und was bewegt Sie selber am meisten in diesem Jahr?
Weil ich jetzt aufhöre, bewegt mich schon die Frage: Was habe ich bewegt? Hat das, was ich hier in Schwanden gemacht habe, für die Leute einen Unterschied in die positive Richtung bedeutet? Ich kann das nicht messen. Ich weiss nur von vielen Abdankungen, dass die Leute sagen: «Das war toll.» Noch verrückt, nicht? Aber da kommt am meisten zurück. Da werd ich auch gebraucht, das ist befriedigend. Vielleicht wird mir dann das fehlen. Anderseits: Gehen Sie in ein In-Café, da hocken die Leute zusammen, das ist doch super. Oder an einem Stadtfest, an einer Landsgemeinde. Hier funktioniert unglaublich viel noch sehr gut. Wir hacken halt immer am Negativen rum, auch die Presse. Aber man muss sehen: Wir leben, global gesehen, ausserordentlich privilegiert. Natürlich gibts da und dort Probleme, aber die sind alle noch lösbar. Auch wenn es mit dem Klimawandel schon schwierig wird.

Im Glarnerland funktioniert noch unglaublich viel sehr gut. Global gesehen leben wir ausserordentlich privilegiert.

Was war Ihr Highlight?
Ich habe mit dem Gleitschirm über alle Berge der Glärnischkette fliegen können, bis nach Amden. Bei perfekten Verhältnissen ist es ein unvergessliches Erlebnis geworden für mich als mittelmässigen Gleitschirmflieger. Ratz, fatz über die Eggstöcke in die Höhe, dann am Vrenelisgrätli wieder weiter hinauf.

Und was hat Sie schockiert?
Schockiert hat mich wirklich, was in den USA mit dem Herrn Trump als Präsidenten abgeht. Solche Leute gibt es viele, und da kann er selber irgendwie nichts dafür. Aber dass man solche Leute wählt, als Repräsentanten, an die Spitze eines Landes, da habe ich Mühe. Jemand, der so plakativ daherkommt, so Hau-Ruck handelt. Da kriege sogar ich Angst, obwohl ich wenig Angst habe.

Welche Themen machen am meisten Angst, was kann ich gegen eigene Ängste tun?
Sorgen macht mir, wenn Leute an die Macht kommen oder Macht haben, die zu wenig differenziert denken. Ich hab Angst vor der Herrschaft der Ignoranten. Ich denke, dass die Schweizer klug genug sind in so Momenten, da gibt es Korrektive. Natürlich machen die Leute auch Fehler, wird gelegentlich falsch entschieden. Aber nicht so radikal verrückt. Jeder kann sich äussern, kann alles kippen, wenn er eine Mehrheit erreicht. In Deutschland geben Sie eine Grundrichtung an mit den Wahlen, und dann machen die. Wenn hier der Bundesrat beschliesst und das geht für viele gar nicht, dann gibts ein Referendum, und das Volk entscheidet. Mehr Demokratie kann man nicht haben. Das muss man sehen, nicht wie schlimm es sein könnte.

In Altersheimen sind Missstände passiert. Wie gehen wir mit unseren Alten, der Elterngeneration um? Was läuft krumm, was gut?
Das ist wichtig: Es läuft sehr viel gut. Ich bin jede Woche im Altersheim und sehe ein grosses Engagement bei den Pflegenden und Betreuenden! Und die grosse Mehrheit der Bewohner (und Angehörigen) ist sehr dankbar dafür und zufrieden. Natürlich wäre mehr Personal besser, und da kommen wir zur wichtigen Diskussion – aber mehr Personal kostet Geld, und wir wollen ja nicht von Robotern gepflegt werden. Natürlich passieren Fehler, kommen Pflegende ans Ende ihrer Kraft. Aber grosso modo läuft es gut. Und wenn etwas schief läuft, dann wird halt die Bremse gezogen.

Sind die Kirchen, ist die Religion noch die richtige Adresse, um Rat zu holen, Kraft auch in schwierigen Situationen?
Doch, durchaus. Für mich und meine Kollegen und Kolleginnen in der reformierten Kirche gesprochen: In Fragen von Religion und Spiritualität bekommen Sie keinen Bären aufgebunden. Wir haben alle unseren Glauben reflektiert, vereinnahmen nicht in sektiererischer Art, können den Kern christlicher Botschaft vermitteln. Ein liebender Gott, Vertrauen ist nicht dumm, was Jesus vorgelebt hat, ist nachahmenswert. Die zehn Gebote sind allerdings nicht exklusiv christlich: Du sollst nicht morden, ... 

Da denkt man an das Projekt Weltethos von Hans Küng?
Genau, die vier Grundgebote, der Rest ist Ausschmückung: Niemanden umbringen, die Wahrheit nach gutem Gewissen sagen, nicht stehlen, in Beziehungen nicht verletzen. Mehr muss man nicht können, und trotzdem schaffen das nicht alle, jedenfalls nicht immer.

Menschen aus fremden Kulturen zu begegnen, ist wichtig. Dann kann man nicht von Weitem über sie reden.

Trotzdem: Die Kirchen sind auf dem Rückzug ...

Ganz viele Leute bedienen sich in der sogenannten Esoterik, anstatt das Naheliegende zu suchen. Andererseits, und das ist auch meine Geschichte, ist ausschliesslich Christliches auch nicht genug. Es ist schlau, über den Zaun zu gucken. Ich hab das mit dem Buddhismus getan. Wir können voneinander lernen.

Und die jüngeren Generationen?
Sie haben halt keine Fragen oder stellen sie nicht im Unterricht ... Sie haben das Leben noch vor sich.

Die reformierte Kirche feiert 500 Jahre Reformation. Was sollte das den Glarnern sagen?
Es wäre nett, wenn sie dieses Erbe würdigen würden. Sich bewusst machen, dass da Leute einen wesentlichen Schritt aus dem mittelalterlichen Denken heraus gemacht haben. Vieles, was bis heute selbstverständlich ist, hat hier seine Wurzeln. Freiheitliches Denken, Inklusive die Aufklärung. Da hat man einen Schritt gemacht in die Selbstverantwortlichkeit: «Ich lese diese Bibel selber.» Bildung ging damals von der Kirche aus, Zwingli war Lehrer, er hat Schulen gegründet. Das waren mutige Leute, und die haben damals auch schon diskutiert über die Zukunft. Es gab die Zürcher Disputationen, Zwingli hat sich durchgesetzt mittels seiner Argumente. Diese Kultur ist super – bis heute können Sie an der Landsgemeinde diskutieren. Mir gefällt dieses öffentliche Miteinander-Reden. Ich bin ein Fan der Landsgemeinde, und ein bisschen nostalgisch.

Mehr und mehr leben auch Muslime bei uns. Wie nehmen Sie sie im Glarnerland wahr? 
Von uns aus suchen wir immer wieder das Gespräch. Es gibt einen runden Tisch, kürzlich gerade hier in Schwanden im Pfarrhaus, mit Vertretern der Muslimischen Gemeinschaft, man redet miteinander mit Respekt. Sie haben sehr betont, dass sie mit Fundamentalismus nichts zu tun haben.

Finden Sie einen Zugang zu den doch sehr patriarchalen Strukturen, die der Islam noch hat?
Ich habe kaum Gelegenheit, mit ihnen zu diskutieren. Ich denke, sie hinken der westlichen Welt einfach zeitlich hinterher. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Schweiz, die für uns fast selbstverständlich ist, die ist hier auch noch nicht so alt.

Und die Burka, über die wir an der Landsgemeinde abgestimmt haben?
Wir finden es mit Recht furchtbar, wenn Frauen voll verschleiert sind, aber das zu verbieten, hilft den Frauen ja nicht. Es braucht Generationen, bis sich das ändert, und diese Frauen haben ja heute auch Zugang zum Internet. Der Islam wird säkularisiert wie das Christentum auch, das ist eine Frage der Zeit. Und ganz viele Muslime leben völlig wie wir.

Wie umgehen mit Terrorgefahr, die auch etwa das «Sound of Glarus» erreichen könnte – und die stark mit dem Islam in Verbindung gebracht wird?
Ich nehme in der Öffentlichkeit die Muslime nicht ausgeprägt wahr. Es gibt ein paar Frauen mit Kopftuch, klar, aber die Leute hier sind doch unauffällig. Ich hab auch vor keinem Angst, warum auch. Bei Grossveranstaltungen muss man halt Vorkehrungen treffen, aber das ist Sache der Polizei. 

Wie können wir den Muslimen näherkommen?
Mir ist wichtig, immer wieder Menschen aus fremden Kulturen zu begegnen, unter anderem im Mittagstisch im «Gaswärch» in Glarus. Er wird von Flüchtlingen betrieben, und ich finde das super. Dann kann man nicht so von Weitem über diese Menschen reden, denen können Sie in die Augen schauen, die haben Sie bedient beim Essen. Dann können Sie nicht sagen: «Das sind alles Schmarotzer.» Wer sagt, «das sind alle», hat schon unrecht. Und andererseits steckt in jedem von uns ein Rassist, in mir auch. Das muss einem bewusst werden. Alles, was anders ist, weckt Misstrauen.

Wir reisen global und sind fremdenfeindlich ...
... und es gibt keine einfache Lösung. Wenn ich eine hätte, wäre ich ein gefragter Mann. 

Wirtschaftliche Entwicklung und Globalisierung wird uns zwar als Lösung verkauft.
Mit jeder Lösung schafft man auch Probleme. Ich plädiere dafür, die Ansätze gegeneinander abzuwägen. Miteinander reden, sich auch streiten. Niemand ist Fachmann für alles. Dafür ist alles viel zu komplex. 

In Glarus ist die Markthalle ein Erfolg. Ein Zeichen, dass die Gemeinschaft eben doch wichtig ist?
Ja, natürlich. Das ist ein Treffpunkt. Und das genau ist der Punkt. Es funktioniert offenbar gut – und warum kann es nicht so weiter funktionieren? Jetzt müssen wir das sichern und auftauchende Probleme lösen. 

Die Glarner Grünen sind 30-jährig geworden. Erfolg oder Misserfolg?
Dass es die Grünen gibt, europaweit, ist gut. Sie waren und sind notwendig, um für diesen Aspekt einzustehen. Zur Sprache zu bringen, dass es nicht nur um Wirtschaft geht, sondern um Nachhaltigkeit. Die Grünen haben all diese Themen aufgebracht. Und andere Parteien haben die Anliegen übernommen. Und natürlich sind sie unbequem. Wenn der Normalverbraucher aufpassen muss, ob er das kaufen darf oder jenes nicht. Und selbst wenn die Grünen nicht die Gewinner sind, das Umweltbewusstsein ist besser als vor 30 Jahren, dafür hat es viel gebracht. Ich bin parteipolitisch unabhängig, aber ich unterstütze Umweltanliegen. Ich unterstütze Greenpeace, denn ich klettere nicht selber auf Atommeiler. Sie legen den Finger auf wunde Punkte.

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