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«Die Kirche hat noch nie eine heile Welt verkündet»

Nachrichten von Terroranschlägen, Kriegsopfern und Flüchtlingsschicksalen erreichen täglich Millionen Menschen. Gerade in dieser Zeit braucht es die frohe Weihnachtsbotschaft, wie Priester Harald Eichhorn und Pfarrerin Ivana Bendik im Gespräch sagen.

Kristina
Schmid
24.12.17 - 15:02 Uhr
Leben & Freizeit
Harald Eichhorn und Ivana Bendik im Interview.
Harald Eichhorn und Ivana Bendik im Interview.
MARCO HARTMANN

An Heiligabend und an Weihnachten strömen wieder viele Menschen in die Kirchen, die man dort sonst nicht sieht. Eine reformierte Pfarrerin aus Chur und ein katholischer Priester aus Näfels erklären, wie sie mit dieser Herausforderung umgeben. Sie sprechen auch über die Botschaft von Weihnachten und darüber, wie sie diese den Besuchern in ihren Predigten vermitteln wollen.

Weihnachten steht vor der Tür – eine besinnliche Zeit, für viele aber auch eine stressige. Nehmen Sie das in Ihren Pfarreien wahr?

Harald Eichhorn: In der Tat herrscht selten so viel Betrieb vor der Pfarrtüre wie in der Adventszeit. Denn zu Weihnachten häufen sich nicht nur die Gottesdienste, sondern auch die Probleme. Häufig kommen Menschen vorbei, die darüber sprechen möchten. Die Weihnachtszeit weckt wohl verstärkt das Bedürfnis nach Versöhnung.

Ivana Bendik: Wirklich? Ich nehme die Weihnachtszeit überhaupt nicht als eine besonders intensive Zeit wahr. Ich empfinde das ganze Jahr als eine sehr intensive Zeit.

Sie nehmen wirklich gar keinen Unterschied wahr?

Bendik: Nein. Als Pfarrerin ist es mir wichtig, nicht in eine Hektik zu geraten. Ich muss Zeit haben, Kraft zu schöpfen, um aus dieser Kraft den Menschen etwas geben zu können.

Sie werden in diesem Jahr in Ihren Pfarreien die Weihnachtspredigt halten. Wie gehen Sie mit den News von Terroranschlägen und Gewalt in Ihren Predigten um?

Bendik: Je nach Situation muss man ein solches Ereignis in die Predigt aufnehmen, etwa dann, wenn etwas Schreckliches in der Nähe passieren würde. Grundsätzlich orientiere ich mich in meiner Predigt aber nicht an solchen Ereignissen. Meine Predigt hat eine andere Grundlage.

Die da wäre?

Bendik: Die Heilige Schrift!

Eichhorn: Frau Bendik hat recht. Das Evangelium sollte die Grundlage jeder Predigt sein, was nicht immer eine einfache Aufgabe ist. Denn auch Theologen verstehen nicht jeden Text in der Bibel auf Anhieb. Also setzen wir uns erst einmal damit auseinander. Haben wir die Botschaft verstanden – oder glauben, sie verstanden zu haben, dann müssen wir die Texte verständlich machen. Es geht darum, sie in die heutige Zeit zu übersetzen.

Wie vermitteln Sie die Botschaft von Weihnachten?

Eichhorn: Die Botschaft von Bethlehem ist eigentlich einfach. Sie lautet: «Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden.» Das ist das zentrale Thema, um das es an Weihnachten geht. Denn das verkünden die Engel über dem Stall von Bethlehem.

Bendik: Das würde ich so nicht sagen. Die zentrale Botschaft des Weihnachtsevangeliums ist komplex. Interessant an der Lebensgeschichte Jesu ist, dass am Anfang der Stall steht – und am Ende der Galgen.

Eichhorn: Krippe und Kreuz sagen wir Katholiken.

Bendik: Jedenfalls hat sich Gott nach der Heiligen Schrift uns Menschen zwischen diesen zwei Eckpunkten offenbart. Das bedeutet also etwas. Wenn ich davon ausgehe, dass es einen Gott gibt, und dass er sich in Jesus Christus offenbart hat, dann hat das Weihnachtsgeschehen Bedeutung. Dann verstecken sich einige Botschaften in der biblischen Überlieferung von der Geburt Jesu. Etwa, dass Gott in Armut, in Ohnmacht, als Kind, völlig hilflos zur Welt gekommen ist. Oder, dass die Hirten, also die Aussenseiter der Gesellschaft, die Ersten waren, die davon erfahren haben – nicht in der Meditation, sondern in der Verrichtung ihrer täglichen Arbeit. Diesen Gedanken versuche ich in meiner Predigt nachzugehen. Mein Ziel ist es, den Gottesdienstbesuchern so ein religiöses Erlebnis zu bereiten. Ich will sie einen Perspektivenwechsel erfahren lassen, sodass sie eine andere Deutung ihres Lebens zulassen können.

Herr Eichhorn, ist es nicht etwas befremdlich, die frohe Weihnachtsbotschaft zu verkünden angesichts dessen, was auf der Welt geschieht? Tausende Menschen sterben in Syrien, Kinder ertrinken im Mittelmeer. Menschen bauen Grenzzäune aus Stacheldraht.

Eichhorn: Überhaupt nicht. Als Jesus zur Welt kam, war die Welt auch nicht besser. Es gab schon damals Armut, es herrschten schon damals Kriege, und es gab Besatzungsmächte im Heiligen Land. Das zeigt, dass Gott auch in Extremsituationen bei uns sein will.

Sie sagen, bei all dem, was auf der Welt passiert, kann man trotzdem Weihnachten feiern?

Bendik: Man muss sogar. Denn das Kind kommt gerade in eine furchtbare Welt, um zu sagen, dass eben nicht das Grauen das letzte Wort haben wird. Die Menschen verstehen es, mit der Angst ein Geschäft zu machen. Die Weihnachtsbotschaft lautet hingegen: «Fürchtet Euch nicht. Euch ist der Retter geboren.» Und das müssen wir verkünden! Entgegen allem Terror in der Welt.

An Heiligabend sitzen Menschen in den Kirchenbänken, die den Gottesdienst jeden Sonntag besuchen. Und Menschen, die die Kirche nur an Heiligabend betreten. Wie gehen Sie mit dieser Herausforderung um?

Bendik: Für mich ist das keine besondere Herausforderung. Denn nicht nur an Weihnachten, sondern jeden Sonntag könnte ein Mensch in der Kirchenbank sitzen, der den Gottesdienst sonst nie besucht. Deshalb versuche ich auch, für jeden einzelnen Sonntagsgottesdienst meine Predigt so zu schreiben, dass jeder Mensch sie versteht. Ganz egal, ob er also jeden Sonntag den Gottesdienst besucht – oder eben nur an diesem einen Tag.

Eichhorn: Das stimmt schon. Und doch ist es für mich eine besondere Herausforderung, den Gottesdienst an Weihnachten zu halten. Denn sonntags weiss ich etwa, dass die Gottesdienstbesucher wissen, wann sie aufstehen müssen, und wann es Zeit ist, die Knie zu beugen. An Weihnachten ist das nicht der Fall. Da muss ich die Besucher viel mehr führen.

Wie?

Eichhorn: Ich sage dann etwa: «Zum Gebet stehen wir auf.» Das mache ich sonst nie. Aber nicht in allen Fällen ist das so einfach. Wenn ich an einem «normalen» Sonntag etwa sage: «Der Herr ist mit Euch.» Dann kommt die Antwort: «Und mit Deinem Geiste.» An Weihnachten wissen aber längst nicht alle, was sie darauf antworten sollten.

Kennen Sie das auch, Frau Bendik?

Bendik: Nein. Die Reformierte Kirche kennt keine Liturgie wie die Katholische. Bei uns ist das etwas einfacher. Vereinfacht könnte man sagen: Während des Gebets steht man. Und sonst kann man sitzen.

Was ist Ihr Rezept für eine glaubwürdige Predigt?

Bendik: Ich bin ein gläubiger Mensch. Das heisst, ich vertraue darauf, dass nicht alles in meiner Hand liegt. Ich muss niemanden zum Glauben bringen. Meine Aufgabe ist es, das Evangelium zu verkünden.

Dann anders gefragt: Wie gehen Sie bei Ihrer Predigt vor?

Bendik: Wenn ich an einer Predigt arbeite, stelle ich mir vor meinem geistigen Auge immer meinen «Wunschkandidaten» vor. Ich stelle mir vor, wie er sich fragt: «An Weihnachten gibt es so viel Kitsch. Aber Weihnachten ist doch eigentlich ein christliches Fest. Steckt also nicht mehr dahinter?» – also besucht er den Gottesdienst und wird belohnt. Denn er hat recht, jenseits von Kommerz und Kitsch ist der Sinn, der hinter Weihnachten steht, für jeden einzelnen Menschen existenziell. Und das versuche ich in der Predigt rüberzubringen.

Eichhorn: Was Frau Bendik sagt, kann ich unterschreiben. Doch für mich – oder für uns Katholiken – geht es um noch mehr. Wir wollen an der Weihnachtsfeier nicht nur den Verstand, sondern alle Sinne der Besucher ansprechen. Die Ohren mit der Orgel. Die Nase mit dem Weihrauch. Die Augen mit den besonders schönen Messgewändern. Und auch das Herz, wenn etwa das jüngste Kind das Jesuskind in die Kirche hineinträgt – und es dann in die Krippe legt.

Bendik: Eine schöne Sprache kann auch ein sinnliches Erlebnis sein.

Eichhorn: Ich will einfach sagen, dass eine Christmette auch ohne Predigt funktionieren würde. Ich wage sogar zu behaupten, dass die Messe auch ohne Predigt genauso schön wäre.

Der Advent ist bald vorbei. Und damit auch das Warten auf das grosse Fest.

Eichhorn: Ja, in der heutigen Zeit muss immer alles so schnell gehen. Die Menschen haben keine Zeit mehr zu warten. Aber wissen Sie was? «Gott hat uns Zeit gegeben, von Eile hat er nichts gesagt.» So lautet eine bekannte Lebensweisheit. Es ist auch wichtig zu wissen, dass nicht nur an Weihnachten über diese Grausamkeiten auf der Welt gesprochen wird. Die Kirche tut das auch nicht. Die Kirche hat noch nie eine heile Welt verkündet. Wir verkünden das Heil für die Welt. Dass uns der Retter geboren ist. Und dass wir darauf vertrauen müssen, dass er stets für uns da ist. Und meine Aufgabe als Priester ist es, die Menschen an Weihnachten daran zu erinnern und den Frieden zu verkünden.

Weihnachtspredigt

Ivana Bendik hält ihre Weihnachtspredigt am 25. Dezember, um 10 Uhr, in der Martinskirche in Chur. 
Harald Eichhorn hält am 24. und am 25. Dezember eine Weihnachtspredigt in der Kirche St. Hilarius in Näfels.

Kristina Schmid berichtet über aktuelle Geschehnisse im Kanton und erzählt mit Herzblut die bewegenden Geschichten von Menschen in Graubünden. Sie hat Journalismus am MAZ studiert und lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern im Rheintal, worüber sie in ihrem Blog «Breistift» schreibt. Mehr Infos

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