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Mit elf Sonderschülern unterwegs in Nordafrika

Der Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern überfordert Lehrer und Gesellschaft. Wie der Alltag tragfähiger gemacht werden kann, zeigt ein Projekt der Bergschule Avrona bei Scuol.

02.07.17 - 09:04 Uhr
Leben & Freizeit

Als mutig oder auch als verrückt wurde das diesjährige Lagerprojekt der Bergschule Avrona mitunter bezeichnet. Mit elf Sonderschülern und vier Mitarbeitern reiste der Institutionsleiter Mayk Wendt kürzlich für zwei Wochen in ein kleines Fischerdorf nach Marokko. «Warum tragen sie Gewänder? Warum sehen wir nur wenige Frauen?» «Gehen die Kinder hier auch zur Schule?» Das waren nur einige der Fragen, welche die Jugendlichen zwischen zwölf und 16 Jahren stellten. Fragen und Antworten auszulösen, das war ein Ziel des Projekts.

«In der Pubertät erwacht das Weltinteresse beim jungen Menschen», erklärt Wendt. Durch die Auseinandersetzung mit anderen Ländern und Kulturen erhalten die Jugendlichen einen Bezug zur eigenen Umgebung, aber auch zur eigenen Biografie und damit zu den eigenen Schwierigkeiten und Problemen. «Ich bin davon überzeugt, dass man in der Fremde die Heimat schätzen lernt», sagt der Institutionsleiter.

Wohin in den Ferien?

Von den insgesamt 14 Wochen Schulferien bietet die Bergschule Avrona bei Scuol drei bis fünf Lagerwochen pro Schuljahr an. Die Betreuung während der Ferienzeit ist für die meisten Eltern nicht möglich, weil sie zum Grossteil arbeitstätig sind. Da der Bedarf bei Sonderschülern tendenziell höher ist als bei Regelschülern, führt die Ferienzeit oftmals zu Überforderungen und damit zu schwierigen Situationen.

«Ich bin davon überzeugt, dass man in der Fremde die Heimat schätzen lernt.»

Es erstaunt daher nicht, dass die Eltern der elf mitreisenden Schülerinnen und Schülern gerne bereit waren, einen grossen Teil der Reise selber zu bezahlen. Etwa ein Viertel der Kosten konnte durch Spenden abgedeckt werden. Zudem haben die Mitarbeitenden teilweise auf die Vergütung der Arbeitszeit verzichtet.

Viel Staunen und Unsicherheit

Ein klassischer Strandurlaub war der Aufenthalt im marokkanischen Fischerdorf für die Sonderschüler nicht. Damit sie einen Bezug zum Meer bekommen und das Selbstbewusstsein gestärkt wird, wurde für sie ein fünftägiger Surfkurs organisiert. Die Jugendlichen lebten während der zwei Wochen in einer einfachen Unterkunft, musste also für einmal raus aus ihrer Komfortzone. Smartphone- und Tabletkonsum waren stark limitiert. «Am Anfang gab es viel Staunen und auch Unsicherheit», erzählt Wendt. Die Schülerinnen und Schüler seien von der Herzlichkeit der Einheimischen überwältigt gewesen. Einmal waren sie sogar zu Besuch bei einer Familie. Es gab Couscous, Gemüse, Minzetee, Gebäck – und viel Gelächter. Die Jugendlichen seien beeindruckt gewesen, wie zufrieden die Menschen in Marokko sind, obwohl sie in Armut leben. «Auch das unterschiedliche Zeitverständnis haben die Jugendlichen stark wahrgenommen, sprich, wie hektisch es in Europa im Vergleich zu Nordafrika ist», schildert der Institutionsleiter.

Es braucht einen anderen Ansatz

Ein Schwerpunktthema des Lagers war die Umweltverschmutzung. Die Lagergruppe besichtigte unter anderem eine Mülldeponie. Mit der Unterstützung der Surfrider Foundation sammelten die Jugendlichen anschliessend am Strand und im Dorf Müll. Innert kürzester Zeit kamen mehrere grosse Säcke zusammen. «Widerstand oder die Frage nach dem Warum kamen nicht auf», erzählt Wendt.

Der Institutionsleiter zieht nach dem Projekt ein positives Fazit. «Es war ein spannendes, aber auch ein intensives Projekt», sagt Wendt. Die Wochen nach dem Lager hätten auf eindrückliche Weise gezeigt, dass sich der Zusatzaufwand gelohnt habe. Die Schülerinnen und Schüler hätten einen grossen Entwicklungsschritt gemacht. Eine Entlastung im Unterricht und im Internat sei nun deutlich spürbar. «Gemeinsame Erlebnisse schaffen Vertrauen und stärken die Beziehung», meint Wendt. Er ist überzeugt: Es braucht nicht mehr Geld für die Ausbildung von Fachpersonen in der Sonderpädagogik, es braucht einen anderen Lösungsansatz. Projekte wie etwa das Marokko-Lager wären ein Beispiel.

Fadrina Hofmann ist als Redaktorin für die Region Südbünden verantwortlich. Sie berichtet über alle gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Themen, die in diesem dreisprachigen Gebiet relevant sind. Sie hat Medien- und Kommunikationswissenschaften, Journalismus und Rätoromanisch an der Universität Fribourg studiert und lebt in Scuol im Unterengadin. Mehr Infos

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